Menschenweihehandlung im Kriegsgefangenenlager in Kiew im Jahre 1946

Menschenweihehandlung im Kriegsgefangenenlager in Kiew im Jahre 1946

Im Heft der Christengemeinschaft im Jahrgang 1948 beschreibt der Priester Albrecht Meyer, wie er zu Pfingsten 1946 im Lager für Kriegsgefangene bei Kiew eine Menschenweihehandlung zelebrieren konnte. Es war dies die erste Weihe-Handlung in der russisch-sprachigen Welt. Nun ist das Besondere, dass unsere Nachforschungen ergeben haben, dass das Haus der Gemeinde der Christengemeinschaft in Kiew gerade dort steht, wo damals dieses Lager gewesen ist.

Dass zu Ostern 1946 allen trüben Erwartungen zum Trotz mitten in der Seelenöde unseres Lagers in Russland eine Feierstunde wahrhaft österlicher Herzbefreiung möglich wurde, war im Grunde noch die Folge der vorausgehenden Weihnacht. Die „gnadenbringende“ Weihnachtszeit hatte den Keim eingesenkt, der zu Ostern aufgehen konnte. Denn damals, als die dunkelsten Nächte herankamen, brach die Sehnsucht nach der seelenhellen heimatlichen Welt so übermächtig auf, dass jeder fühlte: irgendein Weg musste gefunden werden, über alle Zäune und Mauern und trennenden Fernen hinweg, und wenn es auch nur für Augenblicke war. Nur hatten manche nach so vielfacher Verwundung der Seele und bei der Rohheit des Zusammenlebens schon gar keine Hoffnung mehr, dass ein solcher Weg in Gemeinsamkeit mit anderen noch beschreitbar wäre. So hatten sie sich, den Mantel über den Kopf gezogen und beide Augen zu, mit aller Umwelt gramvoll entzweit, früh auf die Pritschen des Massenschlafraumes zurückgezogen. Die andern aber hatten die Versicherung, dass durch die russische Lagerführung eine kleine gemeinsame Feier nicht gestört werden würde, ernst genommen. Sie waren in den Speiseraum gekommen, zögernd erst und voller Misstrauen – hatte man doch eben erst die Enttäuschung erlebt, dass ausgerechnet zum Heiligen Abend kein Brot hatte ausgegeben werden können -, dann aber angesichts eines richtigen Weihnachtsbaumes, dem man nicht ansah, dass er noch vor kurzem aus einem armseligen Besenstiel und einigen losen Tannenreisern bestanden hatte, wie durch ein unfassliches Wunder berührt. So tat sich jene jetzt mit allen Fasern der Seele so zitternd flehentlich gesuchte „andere“ Welt doch auch hier unverkennbar im vertrauten Symbolum kund. Ja, war das wirklich hier?

Hier, wo sich sonst nur alles um des leidigen Leibeshungers willen ständig stieß und drängte? Eine nie gewesene, atemanhaltende Stille wuchs empor und nahm sie alle in sich auf wie in einen großen Feierraum.

Und als dann zart und leise ein Chor anhob, vierstimmig – ein Kamerad hatte aus dem Gedächtnis die Noten des alten herrlichen Prätorius-Satzes noch hervorgebracht: „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ -, ach, wie lange hatten solche Töne Ohr und Herz nicht mehr erreicht! Wie sollte das Gemüt sie jetzt fassen! Mit Schmerzen des Glücks vernahm man sie. Und wie verdämmerten nun die bedrängenden, allzu nahen Dinge ringsum! Ja, da schwanden Zeit und Raum, und wie durch tausend aufgetane Tore schaute jener Überraum herein, der mit seinem Sternenglanz in jeder Weihnacht alle Kinderaugen überwältigt. Da stand jenes helle Land weit offen, das dem Menschen das ganz Jahr über scheinbar so ferne liegt und in dem sich doch alles Zarte seines Wesens grade zur Weihnacht so unsäglich verwurzelt und beheimatet weiß. „Es ist ein Ros‘ entsprungen“: als ein Vorgang wunderlichen Geschehens in unsichtbarer Über- und Innenwelt mochte sich gerade dies jetzt auch hier in tausend Herzen wiederholen.

So war an Weihnachten zum ersten Male das Evangelium in unseren Kreis herein geklungen, Sphärenklang, Verkündigung „von oben“. Monate langen Schweigens waren gefolgt. Als aber die Passions- und Osterzeit nahte, zeigte sich, dass unter der Eisenkruste der alltäglichen Arbeitsfron insgeheim etwas aufgekeimt war: Man fand, dass man doch unmöglich an solchen Festtagen vorüber leben könnte. Wenigstens die Leidensgeschichte und den Bericht von der Auferstehung wollte man hören. Ja, war es denn so undenkbar, im Lager nach Jahren endlich einmal einen Gottesdienst zu haben? Der Chor vereinigte sich erneut, ein siebenarmiger Leuchter wurde kunstgerecht geschnitzt, Kerzen wurden besorgt, aufs liebevollste auch ein großes Altarkreuz gefertigt. Und dann musste der Kamerad, der als einziger im Lager „Pfarrer“ war und dabei seltsamerweise doch gar keiner Konfession, sondern einer Art „Überkirche“ zugehörte, im Namen aller den Bittgang machen, um die Erlaubnis einzuholen. Die Enttäuschung, als er mit abschlägiger Antwort wiederkam, war groß. Zu plötzlich und unvorbereitet war dem Kommandanten das Ansinnen gekommen, als etwas allzu Ausgefallenes war es ihm erschienen. Die Tage der Karwoche kamen und mit ihnen für das Lager viel schwere, herzbelastende Ereignisse. Und als schließlich am Gründonnerstag die Wogen der Erregung das ganze Lager in höchsten Aufruhr brachten, weil zwei Kameraden der Frühjahrslockung nicht widerstanden und das Weite gesucht hatten, da schien die letzte Hoffnung auf die Gewährung einer „Festlichkeit“ vollends dahin zu sein.

Aber dann kam am Ende doch alles ganz anders. Es griff etwas ein, das alle tief bewegte: Karfreitag. Wir waren wie sonst zur Arbeit ausgezogen, der Tag war grau und schwer gewesen, und am Abend bei der Heimkehr ins Lager war jeder nur auf neue Unerquicklichkeiten und Aufregungen gefasst. Da empfing uns unvermutet eine große Ruhe, eine Stille, in der beängstigend ein Rätsel stand, und bald sprach es sich

rund: Einer unserer Kameraden war an diesem Tage bei der Arbeit so verunglückt, dass er kurz darauf starb. Wir sahen ihn nicht mehr. Man hatte ihn schon fortgebracht. Wenige hatten ihn gekannt. Unscheinbar und mit all dem Seinen kaum bemerklich, hatte er im Kreis der anderen dahingelebt. Nun aber hatte sein stilles Gehen den Karfreitagsernst mitten ins Lager getragen, alles verwandelnd. Ein leiser, aber unüberhörbarer Aufschrei des Menschen war erfolgt, des Menschen, um dessen Stirn schuldloses Leid und die Majestät des Genius im Tode unantastbare Hoheit wob. Als hätte es solch nachdrücklichen Hinweises erst bedurft, so wurde nun unserer Bitte unverhofft stattgegeben. Und mit was für ernsten Empfindungen haben die Gedanken immer wieder jenen stillen Kameraden gesucht, als wir an diesem Abend zum ersten Male gemeinsam und vor brennenden Altarkerzen den Sinn auf den richten durften, der um des Fortgangs unseres Lebens willen den Tod auf sich nahm!

Dann wurde es im Lager mit einem unvergesslich sonnenhellen Morgen Ostern. Alle Natur war draußen aufgewacht, so stürmisch-mächtig, als wollte der lang zurückgestaute Frühling in wenig Tagen bewirken, was er im Westen Schritt für Schritt in Monaten vollzog. Drinnen durfte wieder der Altar stehen, über und über bedeckt mit Weidenkätzchen und jungem Grün. Die Fenster standen offen, und die Vögel ließen ihr jubelndes Singen herein schallen, als wollten sie den freudlos hinter Gittern lebenden Menschen die ganze Wonne des Wehens eines neuen Lebenswindes tröstend und beschwingend fühlbar machen. Die Sonne aber, die draußen mit ihrem Leuchten Luft und Erde so sieghaft durchflutete, erstrahlte nun auch hier innen, wo jetzt der Chor mit Fr. Doldingers heilig-starker Hymne „Wurzeln des Waldes“ den Preisgesang aufnahm, als froh weckende Ostersonne. Die Rinden-sprengende, Steine-hebende Kraft draußen, die einmal eines göttlichen Menschen Erdenleibesfessel sprengte und den Stein von seinem Grabe warf, sie ließ nun auch hier den gepeinigten und tief verschütteten Menschen alle Bande vergessen und aufatmend ins Helle treten. Die Augen, die jahrelang nur in Sterben und Untergang geblickt, durften jenes Leben ahndungsvoll gewahren, das mit phönixhafter Schwingenkraft dem Verwesenden ein Sein von freister Seelenleichtigkeit entringt. Hatte es denn schon einmal einer wirklich erkannt, was sich in der Grabes-Gestalt des Altars aussprach? In die Grabestiefen, in die Räume ihrer Toten hatten jene ersten Zeugen österlichen Wissens sich geflüchtet, als die öffentliche Welt den Jubel ihres Mundes nicht dulden wollte. Die Stätten des Grauens hatten sich ihnen in heimatlichstes Heiligtum verwandelt; denn hier unten bei den Gräbern erschauten sie am deutlichsten das österliche Leuchten, das in ihren Herzen frohen Mut entzündete, denen unbegreiflich, die sie oben in Fesseln zum Richtplatz führten. Das Grab war unversehens zum Altar geworden, und als österliches Zeichen trug das Kreuz auf dem Altare auch hier den Sonnenring.

Das Christuslicht, das zu Weihnachten wie aus nächtlichen Raumestiefen hereingedrungen war, war jetzt in das helle Licht des Tages eingetreten, und eine Zeitlang tauchte im Lager die gar nicht auszudenkende Möglichkeit auf, vielleicht gar vierzehntägig in festem Rhythmus aus dem Grau des Arbeitsalltags heraus immer wieder in dies Licht einzutauchen.

Wie viel Anlässe zur Feier gab es doch, und „eigentlich“ hatte ja auch einmal jeder siebte Tag als der „Sonn“-tag darin seinen Sinn gehabt.

Jetzt trat zutage, wie ausgehungert man war. Und einmal dessen bewusst geworden, was sie am meisten entbehrten, gaben die Kameraden nun keine Ruhe mehr. So wurde an einem Sonntagabend im Mai eine Marienfeier gehalten. Die römisch-katholisch Beheimateten hatten darum gebeten, aber auch die andern wollten bei solcher Huldigung an das gütige Welten-Mutterherz nicht fehlen. Und dass der Himmelfahrtstag, nun man uns gewähren ließ, nicht ohne Fest – wenigstens am Abend – vorübergehen konnte, war ganz selbstverständlich.

Schon erhob sich die Frage: Wie werden wir Pfingsten feiern? Sicher würde der Tag als ein Sonntag für viele arbeitsfrei sein. „Könnten wir nicht an solchem Tage einmal die Messe hören?“ ließen sich da auf einmal die vernehmen, denen wahrer Gottesdienst erst mit dem Kultus begann.

„Wenn du sie auch wahrscheinlich ein wenig anders lesen wirst, als wir’s gewohnt sind, wir könnten doch dadurch, dass du als Priester unter uns bist, einmal die Altarfeier haben.““-–“Du hast uns manchmal im persönlichen Gespräch von einem alten-neuen Gottesdienst gesprochen, der, wenn die Predigt zu Ende ist, am Altar erst beginnen müsste. Wie wichtig wäre es für uns, könnten wir den einmal unter uns erleben!“, so kamen die andern zu ihrem Pfarrer-Kameraden, dem es dabei begreiflicherweise den Atem verschlug. Ja, gewiss, die Altarfeier, es gäbe sie rein und neu, und es wäre ihm schon erlaubt, sie zu halten, und sicher wäre es ein großes, ein ungeheures Geschehen -, aber hier? Wie sollte es unter solchen Voraussetzungen möglich sein? Es fehlte doch alles und jedes. Nein, da würden sie sich doch wohl mit der Vorfreude begnügen müssen, dass dies alles einst bei der Heimkehr auf sie warten würde. Und es verstand wohl auch jeder, dass solche allerzartesten Dinge um ihres Ursprungs und Wesens willen eines ganz besonderen Schutzes bedürften. Dennoch verstummte die Bitte nicht. Ja, der Gedanke, einmal erwacht, füllte sich offensichtlich immer inniger mit allem, was das Gemüt jedes einzelnen von einer pfingstlichen Feier erhoffen mochte. Und genauer besehen: so ganz unüberwindlich konnten die äußeren Schwierigkeiten gar nicht sein. Ja, so erstaunlich es war, aus im Lager noch vorhandenem weißem Leinenstoff konnte ein Gewand geschneidert werden. Die russische Führung erlaubte es. Ein Kamerad, der Holzbildhauer war, brachte einen aus dunklem Rüsterholz herrlich geformten Kelch mit silberblinkendem Metalleinsatz, dazu eine passende Schale für das Brot. Das war wie ein Zeichen, das plötzlich Gewissheit

schuf: das Unglaubliche, es wollte sich uns schenken. Und so kamen nun alle Dinge, die nötig waren, zusammen: ein kleines Pult für das Buch, ein Weihrauchfass, Tablett und Gefäße für den Ministrantentisch.

Pfingstsamstag war auch Weihrauch, Wein und helles, weißes Altarbrot als eine Gabe russischer Christen auf verborgenen Wegen hereingelangt. Nur an der Schwierigkeit, die Kasula zu fertigen – es konnte niemand farbiges Seidenband besorgen -, schien alles am Ende noch zu scheitern.

Da kam einem der Gedanke, die Figuren einfach mit Farbe auf den Stoff zu malen, und siehe da, Goldgelb, die Pfingstfarbe, war als einzige Farbe und wie eigens zu diesem Behufe im Lager. – Alles, alles war da, was äußerlich zum Empfange des Geschehens getan werden konnte. Nun konnten wir es kaum erwarten: wir riefen die guten Geister, die in allem fühlbar waren, mit gesammelt inständiger Bitte, und beschworen sie klopfenden Herzens um ihren Beistand.

Ob in der Geschichte der Christengemeinschaft die Menschenweihehandlung jemals unter ähnlich offenen und weit gespannten Verhältnissen gefeiert worden ist? Und ob sie überhaupt schon einmal zuvor in Russland gehalten wurde? Den Beteiligten jedenfalls war es an jenem Pfingstfest in Kiew, als ginge das, was sich hier ereignete, weit, weit über ihre Häupter hinaus in ungeahnte Zukünfte hinein. Menschheitliches, ja buchstäblich die ganze Christenheit spiegelte sich darin, die christliche Menschheit, so wie sie gegenwärtig auf der Erde in der Vielfalt ihrer Formen lebt.

Niemand von den vielen hundert Anwesenden hatte außer dem Träger der Handlung ein Bewusstsein von jener Christengemeinschaft, die mit dem ihr anvertrauten Himmelsgut heute noch ein unscheinbares Katakomben-Dasein führt. Der Ministrant zur Rechten, der „Diener des Wortes“, war ein Protestant lutherischer Prägung. Der Ministrant zur Linken, der „Diener der geweihten Geräte“, war ein Katholik römischer Erziehung. Und beide, jeder etwa einen Halbteil der ganzen großen Gemeinde am Altar vertretend, spiegelten in ihrem Tun zugleich, was die großen Kirchenströmungen, denen sie entstammten, als ihren heiligsten Auftrag vor der Welt des Auferstandenen empfinden. Frei hingebender Dienst am „Wort“ und treue Wartung kultischen „Weihe“-Stromes, hier erschienen sie beide urbildlich aufgenommen in pfingstlicher Erhöhung, sich erfüllend im großen Abendmahle. Bescheiden unsichtbar, doch schweigend unentbehrliche „Substanz“ und „Atmosphäre“ bildend, war noch ein drittes Element anwesend: das griechisch-russische, aus dem uns Kerzenlichter, Wein und Brot und Opferrauch zuteil geworden waren. Als stille Vertreter dieser Strömung, die demütigen Herzens im Erlauschen johanneischer Musik ihr Höchstes fand, waren – neben vielen Ungarn – manche rumänische Kameraden mit dabei. Die ganze große Christenheit war vereint im Geiste, dem in dieser Stunde der Sprachgeist aus Europas Mitte dienen durfte.

Wie unmittelbar und stark klangen da die Worte des Bekenntnisses:

„Gemeinschaften, deren Glieder den Christus in sich fühlen, dürfen sich vereinigt fühlen in einer Kirche, der alle angehören, die die heilbringende Macht des Christus empfinden.“ Die Kirchen des Petrus, des Paulus und des Johannes, auf der Erde sonst überall getrennt, waren hier in der armseligen Welt hinterm Stacheldraht, wo Dogma und Formenzwang allen Sinn verlor, wo allein noch gelten konnte, was von innen das Herz erfüllt, pfingstlich miteinander verbunden. Das Wort: „Wo zwei oder drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin Ich mitten unter ihnen“, dies Wort beglückendster Tröstung, das sie vor Beginn der Handlung voller Hoffnung hörten, es wurde wahr.

Als die Menschenweihehandlung vorüber war, war es, als seien wir inmitten unserer Verlassenheit eines jener Augenblicke gewürdigt worden, in denen die apokalyptischen Mächte über unseren Häuptern hier und da den Vorhang aufreißen, um unsere solcher Helle gar nicht mächtigen Augen unvermittelt des Zeitenüberdauernden in übergroßem Bilde ansichtig zu machen. Wer meinte, es würde hernach noch manche solcher Feier unter uns geben, musste bald einsehen, dass ein derartiges Geschehen nur einmalig sein konnte. Verbote und Schwierigkeiten ließen eine Fortführung nicht zu, wenn auch später noch dann und wann an besonderen Tagen aus geistigen Zusammenhängen heraus etwas gesagt werden konnte. Jenes Pfingsten 1946, je weiter es abrückte, um so unfasslicher wurde es später, aber um so anwachsender zugleich breitete es sein erhellendes Leuchten aus über den Weg aller weiteren Prüfungen.

Albrecht Meyer

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