Religiöse Erneuerung (Lic. Emil Bock) im Online Leseforum

Religiöse Erneuerung (Lic. Emil Bock) im Online Leseforum

Lic. Emil Bock schildert seine persönlichen Erlebnisse im Zusammensein mit Rudolf Steiner. Die Begleitung der Gründung der Christengemeinschaft war wahrscheinlich die letzte große weltbewegende Tat Rudolf Steiners in dessen Leben. Die Christengemeinschaft ist heute in 32 Ländern vertreten und hat weltweit etwa 35.000 Mitglieder

Dieser Inhalt wurde u.a. veröffentlicht in: Wir erleben Rudolf Steiner, Erinnerungen seiner Schüler, Verlag freies Geistesleben


In der strahlenden Helle eines frühen Sonntagmorgens im August 1916 wanderte ich von Tegel nach Berlin. Zwei Jahre lang schon tobte der Krieg. Ich tat nach Ausheilung einer schweren Verwun­dung Dolmetscherdienste und war zu einer überraschenden Visitation auf morgens 5 Uhr in eines der großen Tegeler Industrie-Werke bestellt worden, wo französische Kriegsgefangene, die dort arbeite­ten, Werk-Sabotage betrieben hatten. Die Verhöre waren bald be­endet, und ich dachte, den frühen Tag am besten zu nützen, indem ich den weiten Heimweg zu Fuß zurücklegte. Das Rätsel des Kon­trastes empfindend zwischen der golden-feierlichen Hochsommer-Natur und dem tragischen Zeitgeschehen, war ich in das Innere der Stadt gelangt. Da sah ich am Gendarmenmarkt überraschend große Scharen in die „Neue Kirche, den sogenannten ,,Deutschen Dom“, strömen. Ich erkannte eine Anzahl von Universitätsprofessoren; mir musste scheinen, als ob sich hier aus allen Himmelsrichtungen eine Auslese des geistigen Berlin träfe. Mit gespannter Erwartung, aber auch nicht ganz ohne Skepsis, die davon herrührte, dass ich von Zeit zu Zeit die Predigten bekannter Berliner Kanzelredner besucht hatte, ging ich mit hinein. Ich konnte nicht, ahnen, dass mir durch das, was ich nun zu hören bekam, der Vorhang vor einer neuen Welt auf­gehen würde. In eine Sphäre staunte ich hinein, die mir zugleich sehr fremd und doch aus einer tieferen Schicht heraus ganz vertraut war. Nie hatte ich so predigen hören. Der süddeutsche Sprachklang ließ die Töne der echten Herzenswärme voll ausschwingen. Aber was noch wichtiger war: die lichte Klarheit eines umfassenden Erkennt­nislebens breitete sich aus. Glauben und Wissen waren eins. Die weltanschaulichen Ausblicke, die ja eigentlich nur zu ahnen waren, konkretisierten sich an einigen Stellen in deutlich geprägten Sätzen über Christus und die geistige Welt. Es wurde nämlich nicht über einen speziellen Text, sondern mehr, programmatisch über das Johannesevangelium als solches gepredigt.

…erfuhr ich, dass das Schicksal mich in die Antritts­predigt von Dr. Friedrich Rittelmeyer geführt hatte

Beim Ausgang erfuhr ich, dass das Schicksal mich in die Antritts­predigt von Dr. Friedrich Rittelmeyer geführt hatte, der eben den Schauplatz seines Wirkens von Nürnberg nach Berlin verlegte. Mit einer rätselhaft großen Zukunfts-Empfindung meldete sich in mir die Frage: Sollte es etwa doch die Möglichkeit einer religiösen Verkündigung und Wirksamkeit geben, die ehrlich unserem Zeitalter angemessen und zugleich kraftvoll Krisen-heilend ist? — Meine Her­kunft aus Arbeiterkreisen und mein Durchgang durch eine Ober­realschule, die in erster Linie mathematisch-naturwissenschaftliche und neusprachliche Bildung vermittelte, hatten mir alles andere eher nahegelegt als das Theologiestudium. Ich war zwar schon in der Schulzeit mit zahlreichen Gymnasiasten befreundet gewesen, für die es als eine Selbstverständlichkeit feststand, dass sie Pfarrer werden würden. Und es hatte auch nicht an wohlgemeintem Zuspruch gefehlt, durch den man mich überreden wollte, auf den gleichen Beruf hinzuarbeiten. Aber mir kam es je länger je mehr als das unnatürlichste von der Welt vor, eines Tages den Talar eines protestantischen Pfarrers anziehen zu sollen. Einen bestimmten Beruf hatte ich nicht im Auge. Ich war aber von früh auf darauf bedacht gewesen, mir durch Stunden geben die Mittel zum Universitätsstudium zu ver­schaffen. Irgendwo hoffte ich im geistigen Leben des Zeitalters einen Platz zu finden, wo es möglich sein würde, in einer sich schnell veräußerlichenden Welt wirksam für die inneren Werte einzutreten. Unbestimmt schwebte mir eine aufs Ganze gehende Kulturerneuerung vor. Bald wurde ich mit Rittelmeyer persönlich bekannt. Das Herankommen des 21- jährigen Studenten im feldgrauen Rock gab ihm wie er es öfters ausgesprochen hat, einen Blick in die eigene Zukunft: die jüngere Generation meldete sich, mit der er ein neues Wirken würde beginnen können. Ich fühlte, hinter Rittelmeyer müsse noch etwas anderes oder ein anderer stehen, und ich wartete mit Spannung auf den Augenblick, da sich mir im Gespräch und Umgang mit ihm dies Rätsel lösen würde. Und dann sprach Rittelmeyer von Dr. Rudolf Steiner als von dem, den er für den größten, gottgesandten Zeit­genossen hielt. Im ersten Augenblick sagte mir das nicht so viel, dass mir jetzt schon die Zusammenhänge hätten klar werden können. Ich stand vor einer Summe von Fragen. Geradezu aufregend war es aber für mich, als mir einfiel, dass ich dem Namen Rudolf Steiners schon einmal, und zwar auf eine recht merkwürdige Art, begegnet war. Ungefähr ein Jahr vorher hatte ich bei der damaligen Post-Zensur-Stelle am SchlesischenBahnhof den Drucksachen-Verkehr mit der Schweiz zu prüfen. Dabei waren mir unter den Sendungen des Berliner Philosophischen – Anthroposophische Verlages nach Dornach, wo das erste Goetheanum im Entstehen war, die ungezählten Bücher und Vortragszyklen aufgefallen, die alle den Namen des gleichen Verfassers trugen: Dr. Rudolf Steiner. Es war klar, dass, dienstlich kein Grund zur genaueren Prüfung oder Bean­standung dieser Sendungen vorlag. Mich reizte jedoch die nicht-enden-wollende Fülle von Schriften dieses mehr als fruchtbaren Schriftstellers. Auch wiesen die Titel durchweg auf Fragen hin, die sich keineswegs im Lebensvordergrund erschöpften. So nahm, ich mehrmals solche Bücher und Zyklen von einem Tag bis zum anderen mit in mein Quartier und las bis tief in die Nacht darin. Es wehte mich daraus ein Wind an, von dem ich fühlte, er würde mir neue freie Weiten aufschließen können. Jedoch musste ich mir gleichzeitig sagen: es ist dafür noch nicht ganz die rechte Zeit.

Als mir der Name Rudolf Steiner aus Rittelmeyers Munde aufs Neue entgegentönte

Als mir der Name Rudolf Steiner aus Rittelmeyers Munde aufs Neue entgegentönte, tauchten die damaligen Empfindungen wieder auf. Nur: wie sollte ich die warme Herzenssprache der Predig­ten in der „Neuen Kirche“ mit der beinahe mehr als nüchternen phi­losophischen Erkenntnissprache jener Schriften zusammenbringen? Mein verehrungsvolles. Vertrauen zu Rittelmeyer konnte allerdings nur noch größer werden, wenn ich mir klarmachte, dass er, der doch in seiner Weise längst Meister war, sich als Schüler eines so ganz an­ders geprägten Genius fühlte. Ich musste – und so wird es ja im Grunde jedem gehen – meinen eigenen Zugang zu den durch Rudolf Steiner erschlossenen‘ Erkennt­nis-Ausblicken finden. Rittelmeyer versuchte, mir in religiöser Sprache Zugänge zu bestimmten anthroposophischen Grunderkenntnissen zu vermitteln. Ich verstand ihn nur mit Mühe. Mir ging es nicht um einzelne religiöse Probleme. Entweder wurde das weltanschauliche Feld für das christlich-religiöse Leben im Ganzen frei, oder es war doch alles umsonst. Der weltanschauliche Total-Durchblick ergab sich aber in ungeahnter Klarheit. Das erlebte ich, als ich im Frühjahr und Sommer 1917 Dr. Steiner selber hören konnte. Rittelmeyer machte von der ihm gegebenen Erlaubnis, Gäste in die intimen Vor­träge Dr. Steiners einzuführen, Gebrauch und nahm Eberhard Kurras, mit dem er schon von Nürnberg aus im Briefwechsel gestanden hatte, und mich, – wir waren beide im feldgrauen Rock – in die Vorträge mit, die in dem aus drei Zimmern bestehenden Zweig­raum der Anthroposophischen Gesellschaft in der Geisburgstraße (nicht weit vom Nollendorfplatz) vor etwa 1oo-15o Mitgliedern gehalten wurden. Nichts war mir schwer oder gar fremd von dem, was Dr. Steiner entwickelte. Eine Verkrampfung nach der anderen löste sich in meinem Denken und in meiner Seele. Wie atmete ich auf, als Dr. Steiner in dem ersten Zweig-Vortrag, den wir hörten, das neue, wahre Denken beschrieb! Der Vortragszyklus, der damals gehalten wurde, trug den Titel „Karma des Materialismus“. Es war gerade die Zeit der Reforma­tionsjubiläen; und Rittelmeyer hielt die großen Vorträge, die in dem Büchlein „Luther unter uns“ zusammengefasst sind. Wie oft zog da­mals der Gedanke durch die Seelen von uns Jüngeren, daß eine Reformation, mitten in den Kriegswirren der Zeit, fällig sei und mit uns hielt ja auch Rittelmeyer Ausschau nach einer neuen Stufe der christlichen Geschichte. Zu den Höhepunkten in Dr. Steiners Zy­klus gehörten die Vorträge, in denen er in das Innere von Luthers Wesen und Schicksal hineinleuchtete.

Wir ahnten die Erneuerungsimpulse, die von der Anthroposophie würden ausgehen können.

An einem jener Zweigabende konnte ich mich von dem Büchertisch nicht trennen, auf dem nun in noch größerer Fülle die Vortragszyklen lagen, von denen ich eine Anzahl vor zwei Jahren als Zensor hatte prüfen müssen. Einem inneren Drange folgend, erstand ich mir, obwohl mein letztes Geld dafür nur eben reichte, den Hamburger Zyklus über das „Johannesevangelium“. Ich habe nie ein Buch mit einem so fiebernd-heißen Herzen verschlungen wie dieses. Mit einem Male fand ich die Brücke zwischen Rudolf Steiners Vorträgen und Friedrich Rittelmeyers Predigten. In warm-goldenem Licht lag plötz­lich das Feld des religiösen Lebens und Erkennens vor meiner Seele. Eigentlich war von nun an kein Zweifel mehr an dem Inhalt meines künftigen beruflichen Wirkens. Erst mit der Zeit lernte ich über­schauen, welch unerhört reiche und breitfundamentierte Grundlegung einer kosmisch-menschlichen Christuserkenntnis und christlichen Kos­mos- und Menschenerkenntnis Rudolf Steiner damals schon gegeben hatte.   Nach den Vorträgen, die er im Mitglieder-Kreise hielt, blieb Dr. Steiner gerne noch zu Gesprächen im Raum. Der Kreis war damals noch so klein, daß dies möglich war. Er setzte sich dann meist neben Dr. Rittelmeyer, und bald war das Gespräch vom Inhalt des Vor­trages auf die erregenden Probleme der Tagesereignisse übergegan­gen. Zu der kleinen Gruppe, die zuhörend dabeisitzen durfte, gehör­ten auch Eberhard Kurras und ich. Worte aus schwerster Mensch­heitssorge und schonungslose Charakterisierungen von Persönlich­keiten, die in der Welt als ganz groß galten, prägten sich uns tief ein. In dieser Zeit durften wir auch zu ersten persönlichen Gesprä­chen zu Dr. Steiner kommen und empfingen Rat für unser Studium und Anleitung für unser innerstes Streben

Von 1917 an erlebte man Rudolf Steiner nur noch in der vorder­sten Linie eines heftigen Kampfes.

Von 1917 an erlebte man Rudolf Steiner nur noch in der vorder­sten Linie eines heftigen Kampfes. Bis zum Ausbruch des Krieges hatte er die vorläufige Windstille der äußeren Weltverhältnisse zum Aufbau einer neuzeitlichen, ganz durch den Blick auf die Christuswesenheit orientierten „Theosophie“, einer umfassenden Weisheits­erkenntnis vom übersinnlichen, genützt. In aller Stille war mitten im Zeitalter triumphierender Naturwissensduft in schöpferischer Füller eine moderne Geisteswissenschaft im eigentlichsten Sinne des Wortes entstanden. Licht verbreitete sich über die gesamte mythisch-religiöse Menschheitsvergangenheit mit all ihren Dokumenten. Und zugleich wurde auf unerhörte gegenwärtige Vorgänge im Geistgebiet hingedeutet, die mit dem Näherkommen des Christus und seiner sich langsam enthüllenden neuen Offenbarung im Ätherischen zusammenhingen. — Der Ausbruch des Krieges hatte dem ruhevollen esoterischen Schöpfertum ein Ende gesetzt. Rudolf Steiner vollzog in klarer Entschlossenheit die Wendung von innen nach außen, vom‘ Esoterischen zum Exoterischen. Das wurde ganz deutlich, als 1917, nach der russischen Revolution und dem Eintritt Amerikas in die aktive Kriegsführung, der Krieg in das eigentlich tragische, für die ganze Menschheit verhängnisvolle Stadium eingetreten war. Nun war‘ aber auch im Lebenswerk Rudolf Steiners der Punkt erreicht, an welchem die volle Umsetzung der „Theosophie“ in „Anthroposo­phie“, der Geisteswissenschaft in eine erneuerte Naturwissenschaft, möglich war. Jetzt ging es um praktische Anwendung und Fruchtbarmachung der Anthroposophie auf den verschiedensten Feldern des äußeren Lebens. Eben erst Mitglieder •der Anthroposophischen Gesellschaft geworden, durften wir Jüngeren nun als Mitkämpfer in die Arena des kulturellen Ringens mit eintreten. Rudolf Steiner trat mit dem Impuls der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ hervor, nicht zuletzt, um dem kriegerisch zu Boden geworfenen Mit­teleuropa seine ureigenste Mission zu retten, die darin bestand, der Menschheit durch geistgeschöpfte und doch irdisch-realisierbare Ideen ihre Zukunftswege zu zeigen. Wir wurden Zeugen der unermüd­lichen opfervollen Bemühungen, mit denen Rudolf Steiner in den Kreisen, die in Mitteleuropa für die Führung verantwortlich waren, Wachsamkeit und Ideen-Mut zu erwecken versuchte. Und dann, als die Kriegshandlungen beendet waren, nahm er die übermenschlichen Anstrengungen auf sich, die die Dreigliederungsbewegung mit sich brachte.

Die Idee der Dreigliederung selbst vermochte damals auf dem Felde der praktischen Verwirklichung nicht Fuß zu fassen. Aber aus der Anspannung aller Kräfte ging mit der Stuttgarter Waldorfschule die neue pädagogische Bewegung hervor, und bald gab es auf natur­wissenschaftlichem, medizinischem und manchem anderen Teilgebiet begeisternde Anfänge völlig neuer Erkenntnisse und Wirkensmöglichkeiten. Ich selbst ließ mich am Tage nach der, November-Revolu­tion 1918 in die theologische Fakultät inskribieren. Zusammen mit einigen befreundeten Theologiestudenten gab ich mich der Hoffnung hin, dass nunmehr die evangelischen Kirchen den Mut zu einem wirk­lich freien Geistesleben, d. h. beispielsweise zur Trennung von Kirche und Staat, aufbringen würden, so dass dadurch der Weg frei würde für eine neue, freie Art der religiösen Wirksamkeit. Wir konnten es damals einrichten, dass Dr. Rittelmeyer häufig vor großen und kleine­ren studentischen Zuhörerschaften sprach. Nur allzu bald zeigte sich, dass in den Kirchen alles beim Alten bleiben würde. Umso lebhafter hielten wir, die wir mit Rittelmeyer deutlich eine andere, durch die Anthroposophie befruchtete christliche Ära heraufsteigen sahen, nach den Möglichkeiten einer neuen Reformation Ausschau.

  Unabhängig voneinander sind in jener Zeit verschiedene Gruppen und Einzelpersönlichkeiten an Rudolf Steiner herangetreten mit Fra­gen, die sich auf eine Erneuerung des religiösen Lebens bezogen.

  Unabhängig voneinander sind in jener Zeit verschiedene Gruppen und Einzelpersönlichkeiten an Rudolf Steiner herangetreten mit Fra­gen, die sich auf eine Erneuerung des religiösen Lebens bezogen. Schicksalhaft wurden jedoch weniger die Pläne einer Gruppe von protestantischen Pfarrern, als vielmehr Gespräche, die im Jahre 1920 zwei, junge Menschen mit Dr. Steiner hatten. Ein deutscher Student, der im Krieg Offizier gewesen war und den Verlauf der europäische Schicksale in große Seelennöte gebracht hatte, fragte (Fe­bruar 1920), ob nicht über die petrinische und paulinische Gestalt des Christentums hinaus jetzt die johanneische verwirklicht werden könne. Dr. Steiners Antwort war: er habe die Geisteswissenschaft zu bringen und könne nicht irgendwie religionsbegründend auftreten. Aber „wenn Sie — mit einer Schar von 30-40 Gleichgesinnten – das durchführen, was Sie vorhaben, so bedeutet das etwas ganz Großes für die Menschheit“. Zwei Monate später – als gerade der erste große von Rudolf Steiner gegebene Ärztekurs lief – erhielt eine Schweizer Theologiestudentin, die ähnliche Fragen gestellt hatte, die Antwort: „Es wäre wohl möglich, sogar innerhalb der Kirchen etwas zu erreichen, wenn sich eine größere Anzahl junger Theologen der Kanzeln bemächtigte.“ Rudolf Steiners Hilfsbereitschaft war eine lebendig aktive, und so wurde sogleich von der Möglichkeit eines Kursus für junge Theologen gesprochen: „In einer noch viel intime­ren Art, als es mit den Ärzten jetzt möglich ist, könnte in einem sol­chen Kurs gesprochen werden.“

Obwohl Dr. Steiner deutlich hatte erkennen lassen, dass er mit tatkräftiger Aktivität rechnete — so hatte er im zweiten Gespräch geraten, Fühlung mit dem Fragesteller des ersten Gespräches aufzu­nehmen — dachten die beiden, von der Größe der vor ihnen auf­tauchenden Möglichkeiten fast überwältigt, doch erst ein Jahr später, als sie sich in Dornach trafen, daran, praktische Schritte zu tun. Als die Schweizerin Ostern 1921 nach Berlin kam, um dort weiter zu studieren, zündete dort in unserem Kreise, was sie von den beiden Ge­sprächen des Vorjahres berichtete, so, dass wir darauf drängten, nun aber keinen einzigen Tag mehr ungenützt vorübergehen zu lassen. Es gab in Marburg, Tübingen und Berlin Gruppen von jungen Men­schen, die längst auf das brannten, was sich nun anzubahnen schien. Im Namen von etwa 20 Freunden wurde in der Pfingstzeit Dr. Steiner gebeten, uns in einem Kursus Rat und Wegweisung zu erteilen. Er ging, als käme nun endlich greifbar an ihn heran,, worauf er längst gewartet hatte, mit größter Bereitschaft auf unsere Bitte ein und lud uns nach Stuttgart zu einem Kursus ein, der bereits nach wenig mehr als zwei Wochen beginnen sollte. Von jetzt an fuhr ein Wind in unsere Segel, der das Schifflein mächtig vorwärtstrieb. Wir mussten Rudolf Steiners Wort und Haltung so verstehen, als gelte es, viel verlorene Zeit einzuholen und als könne es bald schon für unser Beginnen zu spät sein. Es war uns wichtig und im objektiven Schicksalsgang wohl nicht ohne Bedeutung, dass wir den Anfang des gemeinsamen Tätigseins unter uns Jüngeren zu finden hatten. Von den 18, mit denen Dr. Steiner im Juni achtmal zusammenkam, war einer 3o, alle anderen waren zwi­schen 19 und 27 Jahren alt, die Hälfte war jünger als 23. Erst jetzt, als es galt, in wenig mehr als zwei Monaten eine etwa zehnmal grö­ßere Zahl von Gesinnungsgenossen zu finden und zu sammeln, tra­ten wir auch an ältere Menschen heran. Es versteht sich von selbst, dass wir in allem mit Dr. Rittelmeyer in engster Fühlung waren und, wenn es so weit sein würde, mit seiner führenden Mitwirkung rech­neten. Trotz der schier unübersteiglichen Devisenschwierigkeiten, die da­mals in der Inflationszeit vorlagen, hatte Dr. Steiner, im Vertrauen auf die Hilfsbereitschaft der Freunde, den bis dahin so wesentlich zu vergrößernden Kreis für September ans Goetheanum nach Dor­nach eingeladen. Nun fing eine rastlose Tätigkeit an. Unser kleiner Kreis bewegte sich in alle Himmelsrichtungen auseinander, um über­all, bis hinauf nach Mecklenburg, diejenigen aufzuspüren, die sich gleich uns für eine religiöse Erneuerung einzusetzen bereit waren. Tatsächlich trafen sich bei dem Septemberkurs — Rudolf Steiner hielt uns 29 Vorträge – in buntester Zusammensetzung etwa 110 Teilnehmer. Es versteht sich ja eigentlich von selbst, dass der Übergang in  die inneren Gesetzmäßigkeiten einer neuen christlichen Ära, wie er uns  vorschwebte, nicht ohne große Schwierigkeiten zu vollziehen war. Und so galt es denn schon bald, mit Hindernissen geistesgeschichtlichen, Formates fertig zu werden. Es war ja nicht damit getan, . Das sich jetzt eine Reihe von Theologen die in der Anthroposophie dar­gebotenen Möglichkeiten zunutze machten, die biblischen Schriften und die Christus-Geheimnisse neu zu verstehen. Rudolf Steiner hatte uns den Ausblick eröffnet, dass nach der Einmündung des christlichen Lebens in ein intellektuelles Theologisieren eine Wiederbelebung der eigentlichen religiösen Substanz nur durch ein gegenwartsgemäß er­neuertes kultisches Lebenselement und also nur durch den Mut zur Begründung eines neuen Priestertums möglich sei. Nun waren unter die Teilnehmerschaft im September doch eine Reihe solcher protestantischer Theologen geraten, die kein Gefühl dafür, hatten, dass das intellektuelle Diskutieren, wie es ihnen zum Lebenselement geworden war, den Tod der Religion bedeutet. Sie okkupierten durch ihre Fragen, die gar keine echten Fragen, sondern Diskussionsthesen waren, das ganze Feld unseres Zusammenseins; und so, fühlten wir mit Beklemmung die Gefahr heraufziehen, dass wir, satt zum Aufbau eines neuen priesterlich-kultischen Wirkens vorzuschreiten, im intellektuellen Vorfelde festgehalten würden. Wir kämpften einen verzweifelten Kampf in den Zwischenbesprechun­gen, in denen die an Dr. Steiner zu richtenden Fragen herausgear­beitet wurden. Uns stand als Raum für unseren Kursus der „weiße Saal“ zur Ver­fügung, ein Eurythmie-Übungssaal ganz hoch oben unter dem Dach. des Südflügels im alten Goetheanum. Ich holte vor jeder Stunde Dr. Steiner von seinem in der „Schreinerei“ gelegenen Atelier ab und begleitete ihn hinüber zum Goetheanum und dort die vielen Treppen hinauf zum „weißen Saal“. Vom dritten Tage an bat ich ihn instän­dig, statt der sogenannten „Diskussionsstunden“ — diese wechselten mit den Vorträgen ab — Vorträge zu halten. Er aber sagte: „Haben Sie Geduld; wir müssen durch das alles hindurch!“ Als gelte es, über den persönlichen Anteil der Beteiligten hinaus eine ganze Mensch­heitsströmung umzuschmelzen, ging er mit der größten Ruhe auf die Fragen ein, die uns Jüngere ungeduldig und ärgerlich machten. Aber wir atmeten doch auf, als er nach einigen Tagen unsere Bitte nachgab.und, an die Fragen, die ich ihm auf dem Hinweg übermittelt hatte, anknüpfend, statt der Diskussion Vorträge hielt. Gerade so kam eine Reihe von umfassend-grundlegenden Vorträgen, unerschöpf­lich in ihren Perspektiven, zustande. In der zweiten Hälfte jener 15 Tage war, was Rudolf Steiner uns gab, — obwohl sich deutlich zeigte, dass bei weitem nicht alle Teil­nehmer des Kursus den Mut haben würden, Träger der zu begrün­denden religiösen Bewegung zu sein, — unmittelbare Vorbereitung und Ausrüstung zum priesterlichen Wirken mit den für unsere Zeit erneuerten Sakramenten. Die Zukunft war wichtiger als die Gegen­wart, und so wurde nunmehr über die Köpfe der in Tradition und Diskussion Verstrickten hinweg – diesen war genügend Tribut ent­richtet worden – so gesprochen, als wären nur solche Menschen an­wesend, die dann auch wirklich das von der geistigen Welt Gewollte voll in ihren Willen aufnehmen und in Erdentatsachen umsetzen, würden. Das heißt nicht, dass nicht auch Antwort auf theologische Fragen gegeben worden wäre. Der alte Dr. Geyer, Rittelmeyers engverbundener Nürnberger Kampfgenosse und Freund — Dr. Rittelmeyer selbst konnte, weil er krank war, nicht in Dornach dabei sein — sagte: er habe immer schon darüber gestaunt, in welchem Maße Dr. Steiner auf den mathematischen, naturwissenschaftlichen und historischen Gebieten des akademischen Wissens beschlagen sei, nun sehe er, dass er auch das Feld der Theologie bis in alle Einzel­heiten hinein beherrsche; er sei wahrlich eine ganze Universität fürsich. Für den Kreis der Entschlossenen – wir waren zunächst nicht ein­mal 4o – kam nun ein Jahr intensivster Vorbereitung. Rudolf Steiner stand uns jederzeit mit seinem Rat zur Verfügung. Nicht ganz, leicht war es, den Ausgleich zu finden zwischen dem vorwärtsstürmenden Willen der Jüngeren und dem Dringen auf solide Grund­legung, wie es hauptsächlich von den Älteren. Dr. Steiner half auch hierin. Er gab beiden Einstellungen recht, ließ uns aber doch auch deutlich erkennen, dass keine Zeit zu verlieren sei. Zu den Unternehmungen, durch die wir noch, weitere tatbereite Gefährten zu finden und zu gewinnen hofften, gehörte eine in erster Linie für Theologen bestimmte Tagung, die auf Rittelmeyers und Geyers Initiative Ostern 1922 in Nürnberg gehalten wurde. Und in der Tat fand damals noch eine Reihe von wichtigen Persönlichkeiten, den Anschluss an unsere Impulse. Durch alles, was wir unternahmen, ging das Brausen eines begeisterten Schwunges hindurch, den wir selbst als Geschenk empfanden. Dr. Rittelmeyer, nahm in der Pfingst­zeit Abschied von seiner Berliner Gemeinde. Wir stellten uns vor, dass er, der zehn Jahre ältere Dr. Geyer und ich, der ich, mehr als zwei Jahrzehnte jünger war, unsere Bewegung würden zu führen haben. Und so versuchten wir zu Dritt das endgültige Hervortreten im Besonderen vorzubereiten. Viele von den jüngeren Freunden hat­ten sich bereits auf die Städte verteilt, in denen wir Gemeinden zu begründen gedachten, und hielten Ausschau nach den Menschen, die das, was wir zu bringen hatten, suchten. Im September erwartete Dr. Steiner den ganzen Kreis zur letzten Vorbereitung und Ausrüstung in Dornach. Im August wollten wir uns, um die rechte Gemeinsamkeit des Fühlens und Wollens unter uns herzustellen, für einige Zeit an einem stillen Platz treffen und uns über die Ergebnisse der individuellen Vorbereitung verständigen. Vor diesen letzten Schritten durften wir drei, Geyer, Rittelmeyer und ich, zwei Wochen lang in Dornach sein, um Dr. Steiner die Fra­gen vorzulegen, die jetzt, vor dem gemeinsamen Arbeitsbeginn, noch zu stellen waren. Es traf sich, dass dies die Zeit Ende Juli und Anfang August war, in der der „Nationalökonomische Kurs“ gehalten wurde. Wir durften an diesem Kursus als Gäste teilnehmen. Selten war es so wie in diesen Tagen möglich, die weltmännische Weite zu erleben, mit welcher Dr. Steiner für die modernsten Probleme des Geldes und der Weltwirtschaft neue Wege wies. Achtmal konnten wir je eine Stunde lang mit ihm sprechen. Er beantwortete unsere Fragen in konzentriertest Art, sodass es für mich schließlich war, als habe er uns einen ganzen überaus inhaltsvollen weiteren Kursus gehalten. Jetzt bezog sich bereits alles auf die praktische Gemeinde-bildende religiöse Wirksamkeit, an deren Schwelle wir standen. Es war eine besondere Gunst des Schicksals, die unseren Kreis im August 1922 nach Breitbrunn an das damals noch ganz stille Ge­stade des Ammersees in Oberbayern führte. Dort lebten Michael Bauer, durch den Rittelmeyer vor mehr als einem Jahrzehnt den Weg zu Rudolf Steiner gefunden hatte, und Margareta Morgenstern, die Witwe. des Dichters. Zusammen mit anderen Freunden hatten sie, die einen besonderen Herzensanteil an unserem Vorhaben nahmen, alles für uns vorbereitet. In einem ausgeräumten Kuhstall war ein  Raum für unsere Zusammenkünfte eingerichtet und geschmückt. Eine feierlich-freudige Erwartungsstimmung erfüllte und verband uns so elementar, dass auch die Absage von Dr. Geyer nur wie eine Wolke sein konnte, die vor einer hellen Sonne vorüberzieht. Es kam etwas auf uns zu, so wie es wohl von einer Frau empfunden wird, die ein Kind erwartet. War nicht der Stall ein rechtes Bethlehem-Motiv? Wesenhaft überschwebte uns das Geistige, dem wir uns an­schickten eine irdische Wohnstatt und Leiblichkeit zuzubereiten. Es schien sich uns in den Urbildlichkeiten zu spiegeln, von, denen die Landschaft durchwoben war: der blaue See in der Nähe und in der Ferne die Berge mit ihren weißen Häuptern. Wie in ein allgegen­wärtiges Galiläa waren wir versetzt. Dazu fühlten wir, wie durch Christian Morgenstern, der uns als Genius und durch die Gattin auch als Mensch nahe war, sowie durch Michael Bauer, durch dessen fast schon zerbrechende Leiblichkeit das warme Gold durchchristeter Seele hindurchleuchtete, ganze Geist- und Christussehnsüchtige Strö­mungen der Menschheitsgeschichte ihre Patengaben an der Krippe eines neuen Weihnachtsgeschehens niederlegen wollten. — Auf die Breitbrunner Erwartung folgte in Dornach in den Tagen vom 6. bis zum 22. September die Erfüllung. Was da in aller Stille, von der Umwelt unbemerkt, geschah, hob uns so über uns hinaus, dass es kaum möglich ist, von dem Kern des Erlebens in Worten zu berichten. Unser Kreis – er bestand aus 45 Persönlichkeiten, darunter 3 Frauen – war täglich zweimal mit Dr. Steiner zusammen und zwar oft durch Stunden hindurch. Wieder war uns der hochgelegene „weiße Saal“ zugewiesen worden. Aber diesmal war nicht das. Wesentliche, dass wir Belehrung empfingen. Es war kein „Theologenkurs“, was Rudolf Steiner uns gab. In unserer Mitte wurde der christliche Kul­tus und Sakramentalismus geboren in der Gestalt, die unserer Ge­genwart als dem Zeitalter der Bewußtseinsseele entspricht. Rudolf Steiner war in stiller Demut und Frömmigkeit und zugleich in höch­ster Geistes-Vollmacht in unserer Mitte. Die Zeit war reif und un­sere Herzen waren offen; und so konnte er für uns vom Himmel  herunterholen, was die mit Christus verbundenen und Ihm dienen­den geistigen Mächte der zukünftigen Menschheit als Gabe des Se­gens zugedacht hatten. Als Träger eines neuen Priester-Auftrags soll­ten wir in die Welt hinausziehen.

In den gleichen Tagen hielt Dr. Steiner abends im großen Saal des Goetheanums die Vorträge des sogenannten „Französischen Kur­sus“: „Philosophie, Kosmologie und Religion“. Eine große Zuhörer­schaft versammelte sich da. Unter den zahlreichen Französisch-Spre­chenden war der greise Edouard Schure, den man am Tage öfters mit Dr. Steiner vor dem Goetheanum im Freundes-Gespräch auf- und abschreiten sah. Die Vorträge wurden in je drei Abschnitten durch den bekannten Journalisten Jules Sauerwein in ein elegantes Französisch übersetzt. Es beeindruckte uns sehr, dass ihm Dr. Steiner im­mer bereits vormittags auf sauber geschriebenen Blättern eine ausführliche Skizze des am Abend zu haltenden Vortrags gab. Wir waren ja nun wirklich Zeugen davon, wie ausgefüllt jeder Tag für ihn war.

Für uns lag etwas Symbolhaftes darin, zwischen, dem „weißen Saal“ hoch oben unter dem Dach, wo wir die Tage verbrachten, und dem großen Saal, wo wir abends unter den Zuhörern saßen, hin- und herzuwechseln. Innerlich mussten wir damals in der Tat auf verschie­denen Ebenen heimisch sein.

Der Wunderbau des ersten Goetheanums war nach siebenjähriger Bauzeit zwischen seiner Einweihung im Herbst 1920 und seiner Zerstörung durch die Flammen der Sylvesternacht 1922/23 nur 21/4 Jahre in Gebrauch. Ein Vierteljahr nach unseren großen Ta­gen wurde der vernichtende Brand im „weißen Saal“ zuerst bemerkt. Das Schicksal hat es uns vergönnt, dass zwei wichtige Stationen im Werden unseres Auftrages in diese 21/4 Jahre fielen. Als Dr. Steiner nach der Brandkatastrophe die rückschauenden Betrachtungen „Das Goetheanum in seinen zehn Jahren“ schrieb, erwähnte er auch diese Stationen unseres Werdens: „Ende September und Anfang Oktober (1921) versammelten sich im Goetheanum eine Anzahl deutscher Theologen, die den Impuls zu einer christlich-religiösen Erneuerung in sich trugen. Was hier erarbeitet wurde, fand einen Abschluss im September 1922. Ich selbst muss, was ich mit diesen Theologen in dem kleinen Saale des Südflügels, in dem später der Brand zuerst entdeckt worden ist, im September 1922 erlebt habe, zu den Festen meines Lebens rechnen.“ („Goetheanum“ 2. Jhrg. Nr. 32; 18. 3. 1923).


Wenn es uns heute wie ein Wunder anmutet, dass die Inauguration des neuen geistgeschöpften Kultus, die zugleich die Begründung der „Christengemeinschaft“ bedeutete, in die kurze Lebenszeit des ersten Goetheanums fiel

Wenn es uns heute wie ein Wunder anmutet, dass die Inauguration des neuen geistgeschöpften Kultus, die zugleich die Begründung der „Christengemeinschaft“ bedeutete, in die kurze Lebenszeit des ersten Goetheanums fiel: erst recht war es eine nicht hoch genug einzuschät­zende Gnade des Schicksals, dass Rudolf Steiner, bevor im März 1925 der Tod seinem reichen Erdenwirken ein Ende setzte, noch zweiein­halb Jahre lang unsere Wirksamkeit mit Rat und Hilfe begleiten konnte. Nie versagte er sich uns, auch wenn die Arbeitslast, die er z. B. während seiner Stuttgart-Aufenthalte zu bewältigen hatte, noch so groß war, und so konnten wir, einer oder zwei oder drei von denen, die für die Leitung der Christengemeinschaft verantwortlich waren, ihm in vielen Gesprächen von den Fortschritten der, Ge­meindegründung berichten und ihn in den Problemen, die sich aus der Arbeit ergaben, um Rat fragen. Vor allem ist jene Zeit durch­flochten von der goldenen Kette der Augenblicke, in denen er uns als Gabe der Geistwelt die Wortlaute vermittelte, die unser Sakramentalismus, wie wir ihn bisher schon, empfangen hatten, vervoll­ständigten und uns im Jahreslauf eines der großen Feste nach dem anderen neu zu feiern und auszugestalten ermöglichten. Als ich so im Frühjahr 1923 das Kinderbegräbnis-Ritual von ihm entgegen­nehmen durfte, strahlte er selbst vor Beglückung über diese besondere Art des Schöpfertums, das, zugleich die höchste Kunst des Empfangens war. Zweimal trat er an jenem Tage — es war bei Gelegenheit einer Tagung — auf mich zu mit den Worten: „Ist der Text nicht schön!“ Mitten im hohen Wogengang des Geschehens bei der Weih­nachtstagung in .den letzten Tagen des Jahres 1923 gab er uns den Wortlaut für eine Neugestaltung des Epiphaniasfestes; während des landwirtschaftlichen Kursus in Koberwitz in der Pfingstzeit 1924 denjenigen, der die Begründung eines christlichen Sommersonnen-wend-Festes möglich machte.

In den vier Zusammenkünften, die unser Mitarbeiterkreis im Som­mer 1923 in Stuttgart mit Dr. Steiner hatte, war er vor allem be­müht, uns bei der Bewältigung der Krise behilflich zu sein, die sich für unsere Arbeit durch die Notwendigkeit einer klaren Differenzie­rung gegenüber der spezifischen Arbeit der Anthroposophischen Ge­sellschaft ergeben hatte.

Dann kam, ein Jahr nach dem Goetheanum-Brand, der große spi­rituelle Durchbruch, den Rudolf Steiner im Dienst und in der Kraft des michaelischen Zeitgeistes errang und den man mit dem Wort „Weihnachtstagung“ nur wie durch eine Hindeutung bezeichnet. Ein neuer Zug sollte in alle Zweige der von der Anthroposophie aus­gehenden Kultur-Erneuerungsbestrebungen hineinkommen. Auch un­serer Wirksamkeit gegenüber bekundete Dr. Steiner eine noch ein­mal gesteigerte Hilfsbereitschaft. Er wollte uns zu einem größtmög­lichen Anschluss an den neufließenden Strom verhelfen. Er sagte, am liebsten möchte er es einrichten, unseren Mitarbeiterkreis fortan nicht wie bisher einmal, sondern zweimal im Jahre zu einem Kursus nach Dornach einzuladen. Mit spontaner Begeisterung sagte er uns, als wir danach fragten, einen Kursus über die Apokalypse des Johannes zu. Auch das Ideal eines konkreten Zusammenarbeitens zwischen den einzelnen Spezialbewegungen, vor allem zwischen Lehrern, Ärzten und Priestern, leuchtete neu auf. Dr. Steiner gab einen unmittelbaren Beitrag dazu, indem er einzelne Mitglieder unserer Priesterschaft gastweise an medizinischen und anderen Kursen teilnehmen ließ. So durfte ich an dem Kursus teilnehmen, der zur Begründung der heil­pädagogischen Arbeit gehalten wurde. Und zusammen mit einem an­deren Freunde war ich auch Gast bei dem großen Lauteurythmie-Kurs, in dem das auf diesem Felde bis dahin Erarbeitete zusammengefasst und erweitert wurde.

Aus solchen Zusammenhängen heraus ergab es sich zu Ostern bei einem Jungmediziner-Kurs,  dass von unserer Seite an Dr. Steiner die Bitte gerichtet wurde, er möchte uns Hilfen für solche schwierigen Seelsorge-Aufgaben geben, bei denen ein Zusammenwirken mit dem Arzt als ratsam erscheine. Damals sagte er sogleich zu, im Rahmen der medizinischen Sektion für Ärzte und Priester einen pastoral­medizinischen Kursus zu halten. Er fügte hinzu: sicherlich werde es  daneben auch noch zu einigen, etwa zwei oder drei, Vorträgen über die Apokalypse reichen, wie er es uns versprochen habe.

Es lag etwas Unerhörtes, fast Atemberaubendes in der Fülle, und Art der Wirksamkeit Rudolf Steiners in den Monaten des Jahres 1924, in denen er noch Vorträge halten konnte. Dabei sah man, wie schwer er bereits körperlich zu leiden und zu kämpfen hatte. Oft drohten ihn die Kräfte so zu verlassen, dass die Freunde, wie z.B. im Juli in Arnheim, erschraken und um ihn zitterten. Wer davon musste, war von der michaelisch-kämpferischen Kühnheit bis ins In­nerste getroffen, mit der er in den Karma-Vorträgen solche fort­schreitenden Enthüllungen vor uns ausbreitete.

Als er Anfang September aus England zurückkehrte, hatte sich in Dornach voll hochgespannter Erwartung eine große, interessant zu­sammengesetzte Zuhörerschaft eingefunden. Eine Vielzahl besonderer Kurse war angesagt, die nun alle in der gleichen Zeit statt­finden sollten. Mehrere der Bewegung nahestehende Schauspieler-Gruppen warteten samt den um die „Sprachgestaltung“ Bemühten auf den „Dramatischen Kurs“. Fast alle anthroposophischen Ärzte waren da, um zusammen mit der vollständig anwesenden Priester­schaft der „Christengemeinschaft den „Pastoralmedizinischen Kursus“ zu hören. Außerdem waren von überallher viele Freunde zusammen­geströmt, weil sie die für die Abende zu erwartenden Karmavorträge und die besonderen Stunden für die Mitglieder der Hochschule am Goetheanum miterleben wollten. Und nun begannen die drei Wochen, die wohl nicht nur in der Geschichte der anthroposophischen Bewe­gung, sondern in der Geistesgeschichte überhaupt ein einmaliges Ereig­nis darstellen. Dr. Steiner, der uns gleich am ersten Tage, als müsse er sich deswegen entschuldigen, sagte, er sei leider sehr krank von der Englandreise zurückgekommen – er konnte sich nur mit größter körperlicher Anstrengung jeweils vom Auto zum Rednerpult hin­bewegen – , hielt täglich vier, wenn nicht fünf Vorträge. Zuletzt waren es, einschließlich der Stunden, die er in der Morgenfrühe den Bau-Arbeitern gab, 7o Vorträge, die er in der kurzen Zeit gehalten hatte; und jeder einzelne brachte in äußerster Konzentration soviel unerhört Neues, Inaugurierendes, daß allein das in diesen Tagen Ge­gebene für viele Jahrzehnte Stoff und Aufgaben zum Verarbeiten enthielt.

Das geradezu Bestürzende im hochgespannten Weiterschreiten von, einem Tag zum andern erlebten wir Mitarbeiter der Christengemein­schaft wohl auf eine besonders deutliche Weise. Und zwar nicht nur, weil wir an sämtlichen Kursen und Abendvorträgen teilnehmen durf­ten. Wir mussten ja die Vorstellung haben, dass Dr. Steiner uns ne­ben dem Kursus, den wir gemeinsam mit den Ärzten empfingen, nur in kurzgedrängter Form etwas über die Apokalypse sagen würde. Nun fing aber unser Apokalypse-Kurs sogleich am ersten Tage mit an und wurde Tag für Tag fortgesetzt, auch als die pastoralmedi­zinischen Vorträge bereits abgeschlossen waren. Als wir nun schon annähernd zwei Wochen so überreich beschenkt worden waren, hatte ich, mich der nicht gerade angenehmen Aufgabe zu unterziehen, Dr. Steiner zu fragen, wie lange wohl  die Kurse noch gehen würden. Wir hatten ja damals schon überall Gemeinden, die auf die sonn­täglichen Gottesdienste rechneten und denen wir schon einmal telegrafisch von der Verschiebung unserer Heimkunft Nachricht hat­ten geben müssen. Die Antwort war: „Haben Sie noch einige Tage Geduld, dann wird sich absehen lassen, wie lange wir noch weiter­machen werden.“ Schließlich war der Dramatische Kurs auf 19, der Pastoralmedizinische auf 11 und unser Apokalypse-Kurs auf 18 Vor­träge angewachsen. Konnten wir uns da wohl gegen die bange Frage verschließen, ob dies etwa der Abschied sei, so dass Dr. Steiner noch so viel zu geben trachtete, als irgend möglich war?

Dr. Steiner ließ es sich trotz seiner großen körperlichen Schwäche nicht nehmen, viele einzelne von uns persönlich zu empfangen, um ihnen in den inneren und auch in den gesundheitlichen Fragen, mit denen sie zu tun hatten, Rat und Hilfe zu geben. Wir konnten aber auch noch mehrere Male ausführlich mit ihm über Fragen sprechen, die sich auf die Führung unserer Bewegung bezogen. Er empfahl uns damals, unsere Einrichtungen durch die Einsetzung des Erzober-lenker-Amtes zu vervollständigen. Und als wir ihn baten, bei dieser Einsetzung selber mitzuwirken, sagte er: er habe sich zwar bisher konsequent darauf beschränkt, unser Rater und Helfer zu sein, ohne aktiv in das einzugreifen, was eben doch ganz und gar von uns selbst getan und verantwortet werden müsse; aber da wir ihn so aus­drücklich darum bäten, wolle er diesmal eine Ausnahme machen und unmittelbar mitwirken. Und so konnten wir Zeit und Ort der Feier mit ihm verabreden.

Aber es war ja wirklich die Abschieds-Fülle gewesen, an der wir hatten Anteil nehmen dürfen. Unmittelbar nach der vermächtnis­haften letzten Ansprache, die halten zu können er am Vorabend des Michaelis-Tages noch einmal seine körperlichen Kräfte zusammen­raffte, zwang ihn die Krankheit auf das Leidenslager, das ein halbes Jahr darauf sein Sterbelager wurde.

Was die von uns noch zu haltende Feier anbetraf, so ließ er uns sagen, er wolle für uns alles so ordnen, dass wir das Notwendige ohne ihn im Kreise der Priesterschaft vollziehen könnten. Wir aber erwiderten, da wir doch seine für uns so wichtige Zusage hatten, wir wollten lieber warten, bis er wieder gesund genug wäre. Einige Mo­nate vergingen, in denen aus der ganzen Welt die bangenden Herzen ihre Hoffnungsgedanken nach Dornach sandten. Rudolf Steiner setzte sein Wirken für seine Schüler und die ganze Menschheit durch die apokalyptisch-führenden Briefe über das „Michael-Mysterium“ fort.

Ich konnte in der zweiten Februarhälfte 1925 einige Tage in Dor­nach sein und durch Dr. Guenther Wachsmuth, der dem Vorstand am Goetheanum angehörte und Leiter der Naturwissenschaftlichen Sek­tion dieser Hochschule war, einige Fragen, die sich in unserer Arbeit ergeben hatten, an Dr. Steiner richten. Als dieser von meiner An­wesenheit erfuhr, ließ er mir sogleich sagen, ich möchte nicht ab­reisen, ohne entgegengenommen zu haben, was er mir noch mitgeben wolle. Am übernächsten Tage hielt ich die Blätter in den Händen, auf die er die Wortlaute für die noch ausstehende Feier geschrieben hatte. Ich bekam sie zugleich mit dem Vorschlag, wir sollten zu die­sem Vollzuge die Priesterschaft nach Berlin zusammenrufen auf den Tag vor der nahe bevorstehenden Tagung, die wir dort halten woll­ten.

Ganz mächtig traf uns das Schicksal, das aus dieser letzten Für­sorge Dr. Steiners sprach, zumal wir aus der Festsetzung eines so unmittelbar vor uns liegenden Datums den Atem der drängenden Zeit herausspüren musste.

Am 24. Februar waren in Berlin in Stellvertretung Rudolf Steiners Frau Marie Steiner und Dr. Guenther Wachsmuth bei unserer Feier anwesend. Die Gedanken, mit denen wir zu dem Leidenslager nach Dornach hinüberdachten, waren von banger Sorge getragen; aber indem sich damit die große Dankbarkeit verband für alles, was wir von und durch Dr. Steiner empfangen hatten und noch fortwäh­rend empfingen, leuchtete die strahlende Geistgestalt vor uns auf, die ihn uns als Künder und Beauftragten des Christus selbst erscheinen ließ. Dr. Wachsmuth erzählt, er habe am nächsten Tage, nach Dor­nach zurückgekehrt, sogleich berichten müssen, und Dr. Steiner habe seinen Bericht mit tiefster Erschütterung entgegengenommen.

  Wenige Wochen danach kam die unfassbare Todesnachricht. Nie­mals können diejenigen den streng-klaren Abglanz des Geistes auf Rudolf Steiners Antlitz vergessen, die in jenen Tagen und Nächten an seinem Lager unter der hochragenden Christus-Statue die Toten­wache hielten, und die dabei waren, als am offenen Sarge Dr. Rittelmeyer das Bestattungs-Ritual zelebrierte und Albert Steffen die Worte vom „Gottesfreund und Menschheitsführer“ sprach.

Wir erlebten unseren Auftrag und unsere Sendung fortan nur umso stärker als ein fortwährendes Begleitetsein von helfenden höheren Kräften.

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