Zukunftsformen des Christentums (Rudolf Meyer)

Zukunftsformen des Christentums (Rudolf Meyer)

Rudolf Meyer (*13. Februar 1896 in Hannover; † 6. Juli 1985 in Göppingen) war Pfarrer der Christengemeinschaft

„Am Christentum hat man Ewigkeiten zu studieren. Es wird einem immer höher, mannigfacher und herrlicher.“       (Novalis)

Die Krisis unserer abendländischen Kultur, wie sie heute in den Völker-Katastrophen offenbar wird, ist zugleich eine Krisis des Christentums. Denn aus den Quellen der christlichen Offenbarung ist seit den Tagen der Völkerwanderung diese europäische Kulturentwicklung gespeist worden. Es werden nun, dafür künden sich bereits die Vorzeichen an, in der nächsten Zeit viele Stimmen sieh erheben und das Argument vertreten : es müsse diese abendländische Menschheit „zur Religion zurückkehren“ und sich wiederum zu den „angestammten Überlieferungen“ bekennen; denn das geistige und soziale Chaos der Gegenwart habe letzten Endes seine Ursachen darin, dass sich die Völker Europas dem Christentum und seinen sittlichen Lehren entfremdeten.

So ausgesprochen, verkörpert dieser Tatbestand allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn das ist ja gerade die Tragik des Christentums in den letzten hundert bis zweihundert Jahren gewesen, dass es nicht mehr die Sprache zu finden vermochte, die zu Kopf und Herz der neueren Menschheit in vollem Sinne hindringt ; eine Sprache, die den Fragestellungen unseres Zeitalters der Intellektualität zu antworten imstande ist. Denn worauf beruhte dieses religiöse Leben, wie es in den Kirchen gepflegt worden ist? Auf einer Tradition, machtvoll und ehrwürdig, die ihre Autorität aus der apostolischen Einsetzung und Nach­folge ableitete. Oder, wo diese Tradition nicht mehr anerkannt wurde – wie innerhalb der protestantischen Welt ­doch auf der „Schrift“ als der einzigen Offenbarungs­quelle. Also wiederum auf einem Autoritätsprinzip, das sich auf bestimmte historische Überlieferungen zu stützen vermag. Dies ist aber gerade das Kennzeichen des moder­nen Strebens, dass es nicht „Schriftbeweisen“ oder andren geschichtlich beglaubigten Autoritäten folgen, sondern nur noch aus inneren Impulsen die Richtung gewinnen möchte. Daß es lieber durch Irrtum zur Wahrheit – aber gleichsam auf eigene Faust ! – sich den Weg bahnen will, statt die fertige Wahrheit zu empfangen und die Richtschnur für sein Handeln entgegen zu nehmen um den Preis, der eigenen Verantwortung damit letztlich enthoben zu sein. Es ist die Seelenhaltung Lessings, der in jenem kühnen Bilde das Ideal des Wahrheitssuchers ausgesprochen hat: wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit hielte, den Menschen auffordernd zu wählen – „ich fiele ihm mit Demut in seine. Linke und sagte: Vater, gib ! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein.“ Ein solches Wort ist gewiss nicht der Ausdruck einer schwächlichen Liebe zur Wahrheit oder etwa einer allgemeinen Erkenntnis-Resignation. Es spricht vielmehr aus, dass eine Wahrheit nur soweit Lebenskraft für den Menschengeist hat, als er sie irgendwie selbst errungen, sie mit eigenem Herzblut erkauft hat. Das schöpferische Ich, das innerhalb der menschlichen Entwicklung immer deutlicher zur Offenbarung drängt, kann sich nicht mehr mit einem fest umgrenzten Lehrgehalt – sei es der kirchlichen Tradition, sei es der biblischen Schriften – zufrieden geben. Es will deshalb das geistig-religiöse Leben nicht einfach auf eine geschichtlich abgeschlossene Offenbarung gründen, die wir im Rückblick auf die Ereignisse von Palästina „für wahr halten“ und gläubig verehren.

Nun hat allerdings die neuere Theologie kritisch-freisinniger Prägung durch ihre Methoden der Evangelien-forschung die Autorität der Schriftüberlieferung selber längst völlig untergraben. ‚ Sie hat vor allem die sogenann­ten „Widersprüche“ in den vier Evangelien aufgewiesen. Sie hat mit allen Mitteln historischer Kritik die Zuver­lässigkeit dieser Berichte vom Leben Jesu in Frage ge­stellt, indem sie an diese den Maßstab legte, den man heute für biographische Mitteilungen meint aufstellen zu müssen. Es ist jedoch gerade die Frage, ob die Evangelien überhaupt in diesem Sinne Lebensbeschreibungen sein wollen. Ob sie nicht vielmehr durch ihren Bildgehalt und das Geheimnis ihrer Komposition für denjenigen, der sich in sie zu versenken, sie innerlich-seelisch nachzugestalten vermag, die Aufgabe haben, tiefere Geisteskräfte zu wecken. So haben die christlichen Mystiker in ihnen stets Stationen eines Seelen-Weges zu finden verstanden. Die altchristlichen Künstler aber haben diesen Stufenweg im­mer wieder in Bildern zu veranschaulichen gesucht. Die altbekannte Symbolik der Evangelisten, die ihnen die geflügelten Gestalten eines Menschen (für Matthäus), eines Löwen (für Markus), eines Rindes (für Lukas) und eines Adlers (für Johannes) zugesellt, deutet auf eine vierfältige Seelenhaltung dieser Schriftsteller hin. Übermenschliche Gewalten, aus Engelssphären sich zu den Evangelisten-seelen herniedersenkend, erscheinen da als die Inspiratoren der heiligen Texte. Aber aus jedem der vier Evangelien schaut uns eben ein anderes Antlitz als sein inspirierender Genius an.  Es ist nun die Frage, ob es nicht möglich sei, diesen Genius jeweils zu belauschen, wie er• hinter einem Evan­gelium und seiner Komposition wirksam ist. Vielleicht können uns gerade die Abweichungen der Evangelien untereinander – das, was man mit intellektualistischer Einstellung zunächst als ihre „Widersprüche“ aufzufassen geneigt ist – den Fingerzeig für die tieferen Absichten der Evangelisten oder für die Art ihrer Inspiration geben? Hier muss nun auf die bahnbrechenden Taten Rudolf Steiners für ein völlig neues Bibelverständnis hingewiesen werden. Sein Buch „Das Christentum als mystische Tat­sache“ (erschienen 1902) stellt einen Markstein in der Geschichte der Evangelien Forschung dar. Durch die im darauffolgenden Jahrzehnt von ihm gehaltenen‘ Vortragskurse über die verschiedenen Evangelien (sie sind in­zwischen alle in Buchform veröffentlicht worden) erscheint diese Methode, die in jenem ersten Buche noch keimhaft in Erscheinung tritt, bis in alle Einzelheiten ausgestaltet. Sie führt, indem sie selbst zu den Höhen der geistigen Inspiration den Pfad weist, den Erkenntnisstrebenden an jene Quellen heran, aus welchen die heiligen Schriften einstmals erflossen sind. Im Einleben in den Geistgehalt der Evangelien und ihre Darstellungsart, die ja garnicht nur Berichterstattung im irdisch-biographischen Sinne seinwill, lösen sich schrittweise alle jene „Widersprücheauf, die sich dem intellektuell befangenen Blicke Zunächst als unauflöslich dargestellt haben.

Sogar in der Reihenfolge der vier Evangelien enthüllt sich eine tiefere Gesetzmäßigkeit‘) Sie spiegelt die Grundimpulse von vier einander ablösenden Zeitaltern wider, sofern diese Zeitalter von der Christus-Offenbarung durchdrungen sein werden. Eine erste Epoche christlichen Geisteslebens trägt ganz deutlich den Charakter des Matthäusevangeliums. Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, wie diese erste christliche Epoche heute an ihr Ende gekommen sei und eine neue unter der Inspiration des Markusevangeliums heraufsteige. Lukas und Johannes, das heißt: die hinter ihnen stehenden Geistesimpulse, deuten auf Zukunftsformen christlicher Kultur hin, deren Wesen wir heute erst von ferne ahnen können. Das alles ist jedoch nicht in einem schematischen Sinne gemeint. Es gab stets Vorboten kommender Entwicklungsstufen, gleichsam geistige „Frühgeburten“, wie es auch immer Nachzügler der Entwicklung geben wird. Es leben in der gleichen Seele sogar diese verschiedenen Geisteshaltungen nebeneinander, bald im Widerstreit miteinander, bald aber auch einen harmonischen Kräfteausgleich bewirkend. Das Urchristentum darf auch in diesem Sinne als ein Urbild alles christlichen Lebens überhaupt empfunden werden, dass es die Fülle der Geister gleichzeitig nebeneinander sprechen und wirken lassen konnte. Es nahm prophetisch alle Of­fenbarungsweisen des christlichen Impulses in gewissem Sinne schon voraus. Die vier Evangelisten dürfen als ein wundersam gegeneinander abgestimmter Geisterchor zu­gleich ihre Stimme der Verkündigung erheben. Lassen wir einmal diese Stimmen gesondert auf uns wirken, ohne uns allzu sehr um die theologischen Urteilsbildungen gegen­über diesen Evangelien zu kümmern. Suchen wir, als ob wir ganz neu im Lesen die Charaktere der vier Schriften entdecken dürften, in die Augen Fallendes auf einfache Weise nebeneinander zu stellen.

1) Die Anmerkungen folgen am Schluss des Buches auf Seite 58 ff. 8

Das Matthäus-Evangelium,

Es charakterisiert sich selber am deutlichsten dadurch, dass es sich „das Buch von der Geburt (oder der Herkunft) Jesu Christi als des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ nennt. Es stellt die Erscheinung des Messias als die reife Frucht der gesamten hebräischen Entwicklung vor uns hin. Deshalb lässt es ja der Lebensdarstellung den Stamm­baum Jesu vorangehen. Durch dreimal vierzehn Genera­tionen, von den Erzvätern abwärts durch die Reihe der Davidischen Könige, die auch die „Wurzel Jesse“ genannt wird, führt diese Ahnentafel bis zu dem Kinde des Josef und der Maria hin, über dem der Stern erstrahlt. Die Weisen des Orients verneigen sich vor ihm. Alle Erwar­tungen der alten Völker finden in ihm ihre Erfüllung. Alle vergangene Weisheit und Frömmigkeit ist nur Vor­bereitung auf ihn gewesen. Sie fasst sich jetzt in dieser Einen Gestalt zusammen.

Kein anderes Evangelium greift deshalb so oft auf das Alte Testament zurück und sucht für alles Heilsgeschehen die Schriftbeweise auf. Wissen wir ja auch von Hieronymus, dass er noch im vierten Jahrhundert in Pa­lästina eine hebräische Urfassung dieses Evangeliums selbst gesehen habe, während wir es heute nur, gleich den anderen neutestamentlichen Schriften, in griechischer Sprache kennen. Matthäus will zum jüdischen Menschen sprechen und ihn in das messianische Zeitalter, das mit der Erscheinung Jesu Christi angebrochen ist, hinüber-leiten. Deshalb tritt in diesem Evangelium der Christus am Beginn seiner galiläischen Wirksamkeit vor allem als der große Lehrer auf, der sich mit dem mosaischen Ge­setze in aller Bestimmtheit auseinandersetzt: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist, — Ich aber sage euch!“ Matthäus lehrt die Gesetzesüberwindung, indem es gerade erfüllt und zwar in verinnerlichtem Sinne voll­bracht wird. So stehen die monumentalen Lehren der „Berg­predigt“ am Anfang dieses Evangeliums, weit hinausfüh­rend über Moses und doch in ihrer Prägung wiederum noch etwas vom Geist einer neuen „Gesetzgebung“ an sich tragend.

Eine erste christliche Epoche findet im Matthäus-Evangelium ihren reinsten Ausdruck. Das Christentum musste zunächst ganz. auf der Frömmigkeit des Alten Testaments seine neue Verkündigung und religiöse Er­ziehung der Völker aufbauen. Noch Paulus sagt, „das Gesetz sei der Zuchtmeister auf Christus hin.“ Erst all­mählich sollte der Übergang vom alttestamentlichen Füh­len (das die heidnischen Völker mit der Botschaft des Christentums zugleich aufzunehmen hatten) zum Geiste der Freiheit, dem Geiste des Evangeliums gefunden wer­den. Der christliche Impuls kann sich auf seiner ersten Stufe nur in alttestamentlichen Hüllen der Welt darstellen. Vieles in den Kirchen ist ja noch von diesem Geiste durch­drungen. Die Psalmen mit all ihrer Innigkeit und ihrer Gewalt des Gottsuchens, des Gottergreifens haben die Ge­bete der kirchlichen Liturgie geformt; sie sind mit ihrem Bildgehalt und ihrem Herzenston in die Gesangbücher der christlichen Gemeinde übergegangen. Es ist dies wohl die edelste Gabe des Alten Bundes an den Neuen. Aber auch Gesetz und Dogma, die Umgrenzung der christlichen Offenbarung durch das „Schriftprinzip“, haben die kirch­liche Überlieferung mehr und mehr durchdrungen. Sie haben ihren verhärtenden Einfluss auf das religiöse Leben ausgeübt und dem freiwaltenden Geiste auf jede erdenk­liche Weise Fesseln angelegt. Der „Neue Bund“ wird stärker, als man es sich selbst gestehen mag, noch immer nach der Analogie des „Alten Bundes“ gedacht.

Wer Sinn für geschichtliches Werden hat, wird in solchen Übergängen eine tiefere Notwendigkeit anerken­nen können. Er wird diese Geisteshaltung, wo sie nicht zu einem völligen Rückfall in das Gesetz der mosaischen Zeit geführt hat, gar nicht kritisieren wollen. Aber er wird sie als eine Stufe, und zwar als die erste, nur einen Übergang darstellende Stufe würdigen, der jetzt andere Stufen einer Christerfüllten Geistesentwicklung folgen müssen. Er wird die Krisis der christlichen Kirchen vor allem darin sehen lernen, dass sie nicht den Schritt tun konnten, der das Christentum völlig aus den Hüllen der alttestamentlichen Tradition befreien soll.

Judäa

In Judäa konnte der Christus nur gekreuzigt werden. Jener Leib, der aus den Erbkräften des hebräischen Volks­tums aufgebaut war – wenn auch aus seinen edelsten ­musste noch durch den Tod geführt werden. Der Auf­erstandene, der sich siegend diesen irdischen Hüllen ent­rang, wies seine Jünger von Judäa nach Galiläa. Dort erst – so schildert es gerade Matthäus – will er sich ihnen in seiner neuen Daseinsform offenbaren. Von Judäa, dem Lande der alten Bindungen und Gesetzgebung, führt der Weg, den der Auferstandene zu weisen vermag, nach Galiläa, dem Lande der Völkermischungen. Es ist damit der Menschheitsweg selber aufgezeigt, der gegangen werden musste. In die Volkstümer musste ja der Christuskeim zu­nächst behutsam eingesenkt werden, um alles Starrge­wordene von innen her zu durchglühen, um die alten Blutsgewalten mit heiliger Christusliebe aufzulichten. Aber erst wenn die Menschheit in „Galiläa“ angekommen sein wird, darf sie auch des Auferstandenen ansichtig werden. Damit hebt die zweite Epoche des Christentums an. Er interessiert sich nicht für Geschlechtsregister. Denn er hat keinen Sinn für Vererbungskräfte und die Mächte der Überlieferung. Er spricht einzig zu den Jugendkräften der Menschheit. Gerade dadurch kann sein Buch eine In­spirationsquelle für unser Zeitalter werden. Die Überschrift seines Evangeliums lautet: „Der Urbeginn (arch6) des Evangeliums des Jesus Christus, des Gottessohnes.“ Nicht also „des Sohnes Davids und Abrahams“, wie ihn Matthäus schildern wollte, sondern nur Dessen, der aus Gotteswelten seinen Ursprung ableitet, den man daher aus keinerlei irdischen Erbkräften und Traditionen er­klären kann. Denn dieser Gottessohn, wie ihn Markus darzustellen sich verpflichtet fühlt, ist erst mit der Jordan-taufe in das Erdendasein eingetreten, als sich die Himmels­sphären über dem schauenden Blicke Jesu von Nazareth auftaten und die Stimme der Höhen erklang: „Du bist mein geliebter Sohn, in dir ‚bin ich zur Offenbarung ge-kommen.“2) Allerdings ist dieses auch die Anschauung der gesamten urchristlichen Welt, die sehr bald die Epiphanie des Christus (gewöhnlich am 6. Januar) zu feiern begann und darunter stets das Ereignis der Jordantaufe verstand. Die ersten drei Jahrhunderte kennen noch kein Weihnachtsfest; man feierte nicht die Geburt des Kindes, das in der Krippe zu Bethlehem lag. Für jene andere Ge­burt aber „von oben her“ (auf die ja dann das Johannes-evangelium mit besonderer Eindringlichkeit immer wieder hinweist) muss heute aufs Neue das Verständnis geweckt werden. Sie ist die Grundlage einer modernen Christus­erkenntnis. Nur von dieser Seite aus wird jene Sackgasse der neueren Theologie überwunden werden, die nur noch den Menschen Jesus von Nazareth psychologisch verstehen wollte und die daneben den Christus, das menschgewordene Gotteswesen, verlor.

Es sei hier aber noch auf zwei Worte, die bereits in jener „Überschrift“ des Markusevangeliums auftreten, hingewiesen. Markus spricht von einem „Urbeginn“. Rudolf Steiner hat in seinen Markusvorträgen wohl zum ersten Male darauf aufmerksam gemacht, dass dieses nur im Sinne eines Titels für die gesamte Darstellung verstanden sein kann. Alles, was sich in Palästina abgespielt hat, ist nichts anderes als ein Neu beginn im radikalen Sinne des Wor­tes.. Aber eben doch nur ein Beginn, nicht eine schon in sich abgeschlossene Offenbarung: ein Durchbruch völlig neuer Kräfte und Geistesmanifestationen innerhalb des Erdendaseins, die aber künftig ihre Fortsetzung finden wollen innerhalb der Menschheitsgeschichte. Dieses Evan­gelium muss, von seinem ersten Satze aus, bereits im Sinne der kühnen Novalis-Worte verstanden sein „Wer hat die Bibel für geschlossen erklärt? Sollte die Bibel nicht noch im Wachsen begriffen sein?“ Oder jenes anderen Ausspruches: „In den Evangelien liegen die Grundzüge künftiger und höherer Evangelien.“ Deshalb treten gerade in der Darstellung des Markus die Lehrreden Jesu weit­gehend zurück. Alles, was mehr zeitbedingte Anweisungen waren, wie sie Matthäus bringt, fehlt in diesem Evan­gelium. Es trägt bei Markus alles mehr den Charakter des Keimhaften. Dieses keimkräftige Dasein des Geistes, das mit dem Christus ins Erdengeschehen hineindringt, beginnt sich auf eine völlig neue Art zu manifestieren. Es als Samenkraft in die eigene Seele aufzunehmen und zu warten, was sich in unserer Zeit daraus entfalten will, das heißt: sich heute im Sinne des Markusevangeliums inspirieren zu lassen.

Von diesem Standpunkt aus wird es auch verständ­lich, dass eine so bedeutsame Stelle des Matthäusevangeliums (Kap. 16, 18), wie das Berufungserlebnis des Petrus, bei Markus fortgelassen werden konnte. – „Du bist Petrus,“ sagt der Christus zu dem Jünger, der sich zu Ihm als dem Gottessohn bekennt: „Auf diesem Felsen will ich meine Gemeinde erbauen.“ Dieses Wort, das in erhabenen Lettern innerhalb der Kuppel des Petersdomes erglänzt, ist der eigentliche „Schriftbeweis“ für den Füh­rungsanspruch der römischen Kirche geworden. Die apo­stolische Sukzession im Geiste des petrinischen Christentums kann sich vor allem auf diese Schriftstelle stützen. Es ist lächerlich, die Echtheit dieses Wortes anzweifeln zu wol­len, nur weil es für protestantische Gesinnungen unbe­quem ist. Mit dieser Methode, die sich so gerne als „wis­senschaftliche“ Kritik gebärdet, kann man alles in Frage stellen und folgerichtig die Grundlagen des Christentums nur auflösen. Man muss es offen zugestehen: jene apostoli­sche Tradition war als kirchenbildende, völkererziehende Geistesmacht für eine erste große Epoche christlicher Ent­wicklung notwendig. Christus selber hat sie gewollt; denn nur im gläubigen Hinschauen auf die einzigartigen Ereig­nisse in Palästina und im Bewahren dieses Empfangenen konnte sich die Menschheit zunächst mit den Kräften durch­dringen, die von der Erdenerscheinung eines Gotteswesens ausstrahlen. Erst allmählich konnte in einzelnen wegbah­nenden Geistern jenes Erlebnis heranreifen, das wir als das „Finden des Christus in der menschlichen Seele“ bezeich­nen möchten. Solche Geister und die sich um sie scharenden Kreise wurden allerdings in der petrinischen Kirchen­strömung als „ketzerische“ gebrandmarkt. Und doch kün­digte sich in ihnen nur die Morgenröte einer zweiten Christus-Epoche an. Das Abstreifen des Prinzips der apostolischen Sukzession und damit auch der Lehrautorität der römischen Kirche gehört zu den Grundzügen eines künftigen „Markus-Zeitalters“.

Die reformatorische Bewegung fühlte bereits diese Notwendigkeit. Indem sie jedoch an die Stelle der aposto­lischen Tradition der Kirche die Autorität der „Schrift“ setzte und zwar im Sinne einer strengen Begrenzung aller Offenbarung auf diese biblischen Schriften Alten und Neuen Testaments, blieb sie grundsätzlich dennoch auf der Stufe des „Matthäus-Christentums“ stehen. Die großen Mystiker, des ausklingenden Mittelalters, wie Eckhart und Tauler, vor allem jene Kreise, die sich auf den geheimnisvollen „Gottesfreund vom Oberland“ zurückführen lassen, waren in dieser Beziehung bereits weit über diese alten Bin­dungen hinausgeschritten, obwohl sie sich als freie, aber zugleich ehrfurchtsvolle Geister verständnisvoll in die kirch­lichen Traditionen hineinzustellen pflegten.

Es muss aber noch auf den tieferen Gehalt eines zweiten Wortes hingewiesen werden, das bereits in der „Überschrift“ des Markus-Evangeliums auftritt. Es ist dieses der Ausdruck „Evangelium“ (griechisch: euangelion) selber. In diesem Worte verbirgt sich ja das bekannte Wort „angelos“. „Engelwirksamkeit“ könnte man es wohl am entsprechendsten übersetzen. Und zwar, wenn wir die Vorsilbe. „eu“ beachten, so ist es die Wirksamkeit der guten Engel im Gegensatz zu dem übermächtigen, die damalige Zeit beherrschenden Walten der abtrünnigen Engel, die man „Dämonen“ nannte. Die Übertragung des Wortes mit dem Ausdruck „frohe Botschaft“ entspringt jener Neigung zur Verflüchtigung und Verflachung des Evangeliengehaltes, wie sie überall dort gepflegt wird, wo man heute die Bibel recht „schlicht“, d. h. bequem verstehen möchte.

Markus kommt es darauf an, den „Urbeginn eines neuen Engelwirkens“ auf Erden zu verkünden, wie es mit der Erscheinung Jesu Christi zum Durchbruch gekommen ist. Deshalb heißt ja die zweite Zeile sogleich: „wie es geschrieben ist durch den Propheten : siehe, ich sende meinen Engel vor dir her . . .“ Und zwar weist er damit auf die Gestalt des Täufers Johannes hin. In ihm war eine Engelmacht unter den Menschen wirksam ge­worden, welche dem Erscheinen des Christus Heroldsdienste auf Erden zu leisten vermochte. Es ist ein Zeitengenius, das Mensch-gewordene Zeitengewissen selber, das mit Jo­hannes dem Täufer in die Geschichte der Menschheit ein­greift. Das Wort „euangelion“ ist übrigens auch aus den Kundgebungen der römischen Cäsaren bekannt. Schon von Augustus an werden die Taten dieser von göttlichem Glanz umgebenen Weltbeherrscher, ja bereits ihr jeweiliger Re­gierungsantritt, als „Evangelien“ für die Völker bezeichnet. Es handelt sich um einen Ausdruck aus der antiken Mysteriensprache, der hier vor der Welt erklingt. Indem die Cäsaren sich selber – wenn• auch gewaltsam und deshalb unrechtmäßig – mit den Weihekräften der heiligen Tem­pelstätten ausrüsten ließen, wollten sie als Götter oder Genien anerkannt werden. Sie waren sich bewusst, dass ein Reich übermenschlicher Kräftewirkungen durch sie in die Erdenverhältnisse hereinzustrahlen begann. Es war eben auch eine „Engelwirksamkeit“, die mit ihrem Auf­treten auf Erden anhob. Nur allerdings ein Reich der Dämonen, das den Staatskultus und die Vergötzung des Staats mehr und mehr an die Stelle der niedergehenden Religionen der alten Welt setzen wollte. Dieses Reich sollte äußerliche Ordnung und Wohlfahrt unter die Völker bringen, doch unter Verzicht auf die Entwicklung der Einzelnen zur Freiheit. Eine Staatslenkung, die auf die Kunst der Massenbeherrschung aufgebaut war und damit die Ichgeburt der heranreifenden Menschheit möglichst lange aufzuhalten suchte, war der Sinn solcher „Evangelien“.

Das Markus-Evangelium stellt mit seiner ersten Zeile bereits die Erscheinung des Christus Jesus dem Reich der Cäsaren gegenüber. Man muß nur den Klang der Worte (z. B. des Wortes „euangelium“) zu hören verstehen, wie er noch von den Zeitgenossen des römischen Imperiums empfunden worden ist. Markus redet – in einer Sprache, in welcher es damals möglich war – zu Rom als einer Weltmacht. Es ist deshalb das Evangelium des sich zur Freiheit durchkämpfenden Menscbentums. Wer mit ge­schichtlichem Sinn die Vorgänge unseres Zeitalters in ihren Tiefenströmungen zu beobachten vermag, sieht mit völliger Deutlichkeit, wie wir in eine Epoche eingetreten sind, die der urchristlichen Situation tief verwandt ist. Über den ganzen Erdball hin, bei allen Völkern und in allen Lebensverhältnissen, wird der Kampf zwischen dem Reiche des Christus und dem des Cäsars ausgefochten werden müssen. Jede einzelne Seele wird zum Schauplatz für jenen Kampf werden, von dem Paulus im Epheserbrief sagt : „wir haben nicht mit Menschen von Fleisch und Blut zu kämpfen . .“ Engel und Dämonen messen ihre Kräfte auf dem Schauplatz der Menschenseele. Diese aber kann im herzmutigen Miterleben jenes Geisterkampfes zur in­neren Freiheit heranwachsen. Andernfalls würde sie dem Schicksal der Entichung verfallen; sie würde ein Partikelchen in der „Masse Mensch“ werden. Sie erläge da­mit der Kunst der Massenbeherrschung. Der Christusimpuls tritt im Zeichen des „Löwen“, des fesselnsprengenden Herzensmutes, in unsere Weltenzeit ein. Die Mächte der Ver­gangenheit bauen ihr Reich auf all das auf, was als Angst in den Seelenuntergründen waltet. Undurchschaute und uneingestandene Angst wandelt sich in Hass, Hass gegen den Geist, welcher Freiheit verleihen möchte.

Grundmotive des neuen Christuswirkens.

Es seien nur wenige charakteristische Begebenheiten herausgehoben, die uns den Geist des Markusevangeliums noch deutlicher machen können. Da lesen wir von dem ersten öffentlichen Auftreten des Christus in der Synagoge zu Kapernaum (Kap. 1, 21-28). Was er lehrt, wird nicht mitgeteilt; nur wie er lehrt. Nämlich „als ob er Vollmacht hätte, und nicht wie die Schriftgelehrten.“ Entsetzen er­regt solche Lehrweise unter den Menschen der Tradition. Denn es war innerhalb der jüdischen Kultgemeinde Sitte, dass am Sabbat aus den Büchern des Moses oder der Propheten vorgelesen und daraufhin die Lehre an Hand der „Schrift“ entwickelt wurde. Theologie war nur noch Schriftgelehrsamkeit. Man schaute – und die christlichen Konfessionen stellen weitgehend heute noch ein Gegen­stück dafür dar – auf die Schriftoffenbarung hin als auf eine in sich abgeschlossene Willenskundgebung Gottes. Die Zeit, wo der Herr unmittelbar zu seinen Dienern sprach und durch sie große Dinge vollbrachte, war längst ver­gangen; sie war in heilige Fernen gerückt. Es galt nur noch, mit Eifer und scharfsinniger Kombinationsgabe das Überkommene auszulegen, auszuwerten. Nun aber sprach hier Einer, der es nicht für notwendig befand, sich auf eine Schriftautorität zu stützen. Sein Wort hatte in sich selber Vollmacht; es bedurfte keiner „Beweise“. Die Wahr­heiten der göttlichen Welt, aus dem Quell des geistent-sprossenen Menschen-Ichs hervorgehend, tragen sich in sich selber. Sie stützen sich gegenseitig. Sie rufen gleich­sam die Geist-Erinnerung in die Seele dessen herein, der sie nachzudenken, nachzuerleben beginnt. Das Evangelium zeigt uns zugleich die Wirkung einer solchen Geistverkündigung : „Es war in ihrer Synagoge ein Mensch mit einem ungeläuterten Geiste, der schrie auf und sprach: was wirkt da zwischen uns und dir, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu vernichten ! Ich erkenne dich, wer du bist : der Geweihte Gottes.“

Das ist der Aufschrei der Dämonen……

Das ist der Aufschrei der Dämonen, die das Menschen­geschlecht schon in ihren Bann geschlagen glaubten und jetzt erkennen müssen, dass ihnen die Menschenseelen durch das Erscheinen des Christus im Erdensein fortan entrun­gen werden. Es wird nun berichtet, wie Jesus den Geist, der aus jenem Besessenen redet, bedroht und zum Ver­stummen bringt; wie sich ein Kampf in der Seele des Kranken abspielt – er wird dabei hin und her gerissen -: wie aber schließlich der Besessene von ihm frei wird. Er kommt zu sich selbst. Das wahre Selbst wird wieder in seine Seele hereingerufen. Denn das Erkennen der geistigen Welt ist zugleich ein Erinnern unseres wahren Ursprungs, ein Zusichselbstgeführtwerden des Menschenwesens. Es wird frei, indem es sich in sich selbst ergreifen lernt. „Was ist das?“ fragen die erstaunten Hörer in der Synagoge von Kapernaum – „eine neue Lehre mit Vollmacht!“

Geistverkündigung im Sinne des Markusevangeliums bedeutet Entfesselung eines Geisterkampfes auf Erden. Die Wahrheit ist eine Fackel; sie ruft die Finsternisse, in die sie ihren Strahl fallen läßt, gegen sich auf. Sie tritt in die Seelendumpfheit herein, um das Menschenwesen frei­zukämpfen. Sie zwingt niemanden; aber sie verleiht Frei­heit, wo bisher Zwangsgewalten herrschten. Die Heilkraft der Erkenntnis gewahr zu werden, ist das erste Erlebnis, durch welches sich eine neue Christusoffenbarung ankün­digen will. Sie wirkt durch das Geisteszeugnis, das keiner Stütze von außen und darum auch keines „Schriftbeweises“ im alten Sinne mehr bedarf.Gegen das Ende dieses Evangeliums findet sich eine für die bisherigen Bibelerklärungen höchst rätselhafte Stelle. Wir finden sie einzig bei Markus. Als in Gethsemane der Christus vor seiner Gefangennahme steht und alle Jünger die Flucht ergreifen, heißt es plötzlich:  „Und ein Jüngling war in seinem Gefolge, der ein feines Leinen­gewand auf dem bloßen Leibe trug; und sie griffen ihn. Er aber ließ das Leinengewand fahren und entfloh nackt.“ (Markus 14, 51 u. 52.) Zu diesen Versen hat Rudolf Steiner in seinem Vortragszyklus über das Markusevangelium die erste einleuchtende Erklärung zu geben vermocht.*) Es handelt sich nämlich, nach seiner Darstellung, um ein Geschehen, das sich gar nicht im Sinnendasein abspielt. Dieser Jüngling ist eine übersinnliche Gestalt, die sich dem hellsichtigen Blicke des Evangelisten enthüllte, wenn er auf die Gethsemane-Ereignisse im Geiste zurückschaute. Immer wieder sind ja die Evangelien, wie auch die alt-testamentlichen Schilderungen, von solchen Vorgängen durchwoben, die aus einer andern Daseinsebene kommen und sich in die irdischen Ereignisse hineinmischen. Man muss erst im eindringlichen Lesen, im verstehenden Mit­gehen mit den Schilderungen den Sinn dafür entwickeln, an welchen Stellen die sinnlichen Vorgänge leise in über­sinnliche hinübergleiten. Denn die Darsteller inspirierter Urkunden pflegen nicht immer deutlich auf diese Übergänge aufmerksam zu machen, weil sie ja auch die Sinnenvorgänge in der Weise anschauen und darstellen, dass diese gegen das Geistige hin transparent werden. Für sie gilt das Goethewort : „Alles Vergängliche ist nur ein Gleich­nis.“ Alles Vergängliche wird ihnen zu einer Brücke, über die sie zum Unvergänglichen, zum Übersinnlichen hin-überwandeln können.  Was seit der Jordantaufe während dreier Jahre in dem Menschen Jesus gelebt und was ihn mit Himmels­kräften durchwaltet hatte, es war das kosmische Leben des Christus selber. Es waren Weltverjüngungsmächte, die durch die Hülle eines Menschen im Erdendasein zu wir­ken begannen. Eine Jugendgestalt, von ätherischem Glanze umflossen, lebte drei Jahre lang unter dieser unscheinbaren Menschenhülle. Aber sie konnte ihre begnadenden Kräfte nur so lange auf die Menschen im engeren und weitern Umkreise ausstrahlen, als eine gewisse Empfänglichkeit, ein ahnendes Verstehen für ihre Gegenwart da war. So­bald dieses Verstehen aufhörte, als schließlich in Gethsemane selbst der Kreis der nächsten Jünger versagte, da musste sich dieses kosmische Jugendwesen, dieser Fremdling im Erdenlande, wiederum der menschlichen Hülle entringen, die ihn bis dahin geborgen hatte. Rudolf Steiner antwortet auf die Frage: was konnten die Menschen zuletzt fangen, verurteilen und ans Kreuz schlagen? – „Den Menschen­sohn ! Und je mehr sie das taten, desto mehr zog sich das kosmische Element, das als ein junger Impuls in das Erdenleben hereintritt, zurück. Er zog sich zurück. Und es blieb der Menschensohn, den nur umschwebte, was als junges kosmisches Element herankommen sollte. Kein Evangelium spricht davon, dass der Menschensohn nur blieb, und dass das kosmische Element ihn nur umschwebte, als nur das Markus-Evangelium.“

Diese Jünglingsgestalt war also kein physisches Wesen. Sie lebte in jenen verborgenen Bildkräften, die den Jesus­leib durchdrangen, nun aber – gleichsam wie bei einem bereits Hinsterbenden – sich dem Erdenkörper zu entrin­gen anfingen. Innerhalb der Bildkräfte, die unsere dichte Erdenform durchwirken und sie aufgebaut haben, lebt aber auch alles das weiter, was wir durch Vererbung und

durch Überlieferung in uns aufgenommen haben und unterbewusst in uns fortwirken lassen. Auch das streifte dieser junge kosmische Impuls in jener Gethsemane-Stunde von sich ab. Deshalb heißt es, dass er „unbekleidet ent­schlüpfte.“ Rudolf Steiner sagt darüber: „Er bewahrt nichts, der neue Impuls, von dem, was die alten Zeiten um den Menschen haben schlingen können. Er ist der ganz nackte, neue kosmische Impuls der Erdenevolution.“ Und hin­weisend auf den Osterbericht (Markus 16), in welchem von dem Jüngling im weißen Gewande gesprochen wird, der den drei Frauen über dem geöffneten Grabe sichtbar geworden ist, fährt er fort: „Das ist derselbe Jüngling! Nirgends sonst in der künstlerischen Komposition des Evan­geliums tritt dieser Jüngling uns entgegen, der den Men­schen in dem Augenblick entschlüpft, da sie den Menschen­sohn verurteilen; der wieder da ist, als die Tage vorüber‘ sind und der von jetzt ah wirkt als das kosmische Prin­zip der Erde.“

Bild des Jünglings

In diesem Bilde des „Jünglings“ können wir die Situation des Christusimpulses, wie sie durch die Mensch­heitskrisis im gegenwärtigen Weltaugenblicke zustande gekommen ist, anschauen lernen. Was unter der Wirkung der materialistischen Gedankenformen des neunzehnten Jahrhunderts – und im Zusammenhange damit durch die zersetzende Wirkung der modernen Bibelkritik – aus dem Christentum geworden ist, das lässt sich heute nur als ein Menschheits-Gethsemane charakterisieren. Denn die Verständnislosigkeit, die sich gerade innerhalb der kirchlichen Kreise selber, vor allem der Theologen Schaft, mehr und mehr gegenüber dem übersinnlich-kosmischen Leben, das durch die Evangelien strömt, einstellte, führte immer deutlicher zur Verleugnung der christlichen Grund­lagen unserer Kulturwelt. Schließlich aber führte es zu alledem, was wir als einen weltgeschichtlichen Verrat am „Menschensohne“ selber, an der Substanz der Menschlich­keit in der Gegenwart vor sich gehen sehen. Nur der Mensch Jesus von Nazareth ist heute von jener göttlichen Glorie, mit der das Christentum einstmals in die Erdenentwicklung eintrat, zurückgeblieben. Und dieser ist dem­gemäß zur Bedeutungslosigkeit, zur völligen Ohnmacht gegenüber dem Zeitengeschehen verurteilt. Was aber nie­mals gefesselt und gekreuzigt werden kann, was sich auch dem Tribunal der modernen Zeitautoritäten entringt, es wird als Jugendgestalt über den Trümmern einer Welt aufleuch­ten, welche das Christentum in Wahrheit zu Grabe ge­tragen hat. Von diesem Jugendimpuls einer neuen Christus­offenbarung wird allerdings gelten, was wir mit .den Wor­ten gekennzeichnet fanden : „er bewahrt nichts, was die alten Zeiten um den Menschen haben schlingen können. Er ist der ganz nackte, neue kosmische Impuls der Erdenevolution.“

Was noch Umhüllungen aus der Vergangenheit waren, in die zunächst der junge Impuls des Christentums ein­gekleidet erschien : der alttestamentliche Unterbau, die Formen des Kirchentums, vor allem aber das dogmatische Lehrgebäude, das mit den Begriffsbildungen einer altge­wordenen Welt das einzigartig Neue zu erfassen suchte, das alles wird künftig von dem wiedergeborenen Geiste des Christentums endgültig abgestreift werden. Die Jüng­lingsgestalt, die am geöffneten Grabe erscheint, redet zu den suchenden Seelen : „Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden und ist nicht hier.“ Denn nicht diejenige Gestalt, in welcher der Christusgeist in Palästina verkörpert erschien und welche durch die Kreuzigung schreiten musste, wird das Ziel des neuen geistigen Suchens sein dürfen. Sie kann allerdings, wenn wir uns in verehrender Liebe mit ihr verbinden, für uns zur Wegleitung und Vorstufe jenes Erlebens werden, das in eine Welt ätherischer Lebensgeheimnisse hineinführt, deren Herold die Jünglingsgestalt am geöffneten Grabe sein will. Christus wartet heute im Aetherreich der Erde auf die erwachenden Menschenseelen. Sie werden Ihn finden können, wenn sie hinter den Sinnenschein des Werdens und Vergehens dringen, wenn sie jene Welt geheimnis­voller Verwandlungen betreten, die jenseits von Geburt und Tod waltet.

Novalis

Novalis, dessen Geschichtsbetrachtung von mutvollen Ideen erleuchtet war, hat wohl am deutlichsten von die­sem Formenwandel des Christentums gesprochen, der sich für seinen Blick mit dem Versiegen der überlieferten For­men ankündigte : „Fortschreitende, immer mehr sieh ver­größernde Evolutionen sind der Stoff der Geschichte -“ sagt er in seiner Schrift „Die Christenheit oder Europa“ : „Was jetzt nicht die Vollendung erreicht, wird sie bei einem künftigen Versuch erreichen oder bei einem aber­maligen; vergänglich ist nichts, was die Geschichte er­griff, aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicheren Gestalten erneut wieder hervor. Einmal war doch, das Christentum mit voller Macht und Herrlich­keit erschienen, bis zu einer neuen Wel t- Inspiration herrschte seine Ruine, sein Buchstabe mit immer, zuneh­mender Ohnmacht und Verspottung.“

Diese „neue Welt-Inspiration“ war für Novalis bereits Erlebnis geworden. Als Herold einer neuen Epoche des christlichen Geistes wollte er sie in den Menschenherzen vorbereiten helfen. Sie hat freilich den Zerfall aller alt­gewordenen Formen des religiösen und kulturellen Lebens zur Vorbedingung. „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungs­element der Religion!“ ruft er aus. „Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor. Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr hindert; die höheren Organe treten von selbst aus der allgemeinen gleichför­migen Mischung und vollständigen Auflösung aller mensch­lichen Anlagen und Kräfte als der Urkern der irdischen Gestaltung zuerst heraus. Der Geist Gottes schwebt über den Wassern, und ein himmlisches Eiland wird als Wohnstätte der neuen Menschen, als Stromgebiet des ewigen Lebens zuerst sichtbar über den zurückströmenden Wogen“ So schildert der Dichter und Seher das Heraufglänzen einer ätherischen Kräftewelt vor den inneren Sinnen, die sich im Chaos der Zeit aufs Neue zu öffnen beginnen. Dieses Fußfassen des menschlichen Geistes  in anderen Daseinssphären, dieses Erobern neuer Lebensreiche, die sich gleichsam aus dem „Stromgebiet des ewigen Lebens“ für Geistesaugen sichtbar herausheben, wird die Grund­bedingung für alles sein, was uns zu den künftigen Lebens­formen des Christentums hinführen kann.

Goethe

Auch Goethe gehört zu den Pionieren jener neuen Geistesepoche eines überkonfessionellen Christentums. In seiner unvollendeten aber aus einer tiefen Inspiration ge­schöpften Dichtung „Die Geheimnisse“ hat er die Pilger­schaft eines modernen Geistsuchers in jene Sphären dar­stellen wollen, die den Menschen zum Genossen einer Welt ewig jugendlichen Lebens machen. Da kommt der junge Pilger auf Pfaden, die abseits von der gewohnten Straße führen, an die Pforte einer Bruderschaft, welche sich das von Rosen umwundene Kreuz zum Symbolum erwählt hat. Es ist gewiss kein Zufall, dass der Dichter dem jun­gen Pilger den Namen „Markus“ gegeben hat und jenes heilige Geschehen, zu dem dieser berufen wird, an den Ostertag verlegte. Er wollte damit auf „erhöhte menschliche Zustände“, wie es in einer Nachbemerkung heißt, hin­weisen. Nachdem nun der junge Bruder Markus die erste Nacht in jener geheimnisvollen, der Gralsstätte verwand­ten Ordenssiedlung verbringt, erfährt er eine erste Er­höhung des Bewusstseins. Beim morgendlichen Erwachen schaut er, wie drei Jünglinge in lichten Gewändern an seinem Fenster – „als kämen sie von nächtigen Tänzen -“ vorübergleiten. Es ist ein erster Einblick in die ätherische Gestaltenwelt, die hiermit dem Geistsucher im Zeichen des Rosenkreuzes zuteilwerden konnte. Ein solcher Weg aber wird mehr und mehr in das Miterfühlen, und schließlich in das schauende Miterleben der Lebensgeheimnisse der Erde wie des ganzen Kosmos hereinführen. Aus diesen Sphären heraus wird dem suchenden Menschenherzen die ätherische Gestalt des Christus selber begegnen. Deshalb heißt der apostolische Auftrag, den die Jünger im Sinne des Markus-Evangeliums empfangen: „Geht hinaus in alle Welt und verkündigt das Evangelium aller Kreatur.“ Die erlösenden Kräfte des Auferstandenen wollen sich dem Leben der ganzen Natur mitteilen; sie gießen ihr Licht verklärend bis in das Reich der Elemente aus. Im Mat­thäus-Evangelium erklang der Auftrag des Auferstandenen statt dessen mit den Worten: „Geht hinaus in alle Welt und lehret alle Völker . .“ Die Kirche, wie sie für ein erstes Zeitalter des Christentums gestiftet werden sollte, verwaltete das Lehramt für die Nationen der Erde. Sie wirkte als Menschheit-verbindende Geistesmacht, sofern sie im richtigen Sinne ihre Aufgabe erfüllte. Die Christus­offenbarung der Zukunft aber soll als eine kosmische Lebens macht wirken, alle bisher gewordenen Kirchen­formen überwindend.

Es hat allerdings vom frühen Mittelalter an bedeut­same Kreise gegeben, die innerhalb des Christentums ge­rade für diese bis in die Reiche der Natur sich ergießen­den Heilandskräfte ein tiefes Verständnis zeigten. Die iroschottische Kirche, wie sie durch ihre großen Glaubens­boten Columban, Gallus und viele andere das Christuslicht in die Dunkelheit Europas hineingetragen hat, ist eine Vorbotin solchen kosmisch empfindenden Christentums. Die Legenden, die sich vor allem um die Gestalt St. Columban des Aelteren, der auf dem Eiland Jona wirkte, ge­woben haben, spiegeln diese Haltung wider. Sie reden von dem Christusblick, der in der Menschenseele für „alle Kreatur“ aufgehen kann. In die gleiche Richtung weist uns das Erlebnis Richard Wagners, wie es ihm am Kar-freitagsmorgen des Jahres 1857 im Anblick des Zürcher Sees zuteil wurde, als er jenes tiefe Seufzen durch die Frühlingsnatur ziehen hörte, das sich nach,.: dem Erlöser sehnt. Dieses Erlebnis kündet für die moderne Welt den Aufgang des neuen Christusblicks, der alle Kreatur mit­leidvoll umfasst, in erschütternder Weise an. Damit war für Wagner der Inspirationsquell seiner Parsifalschöpfung aufgebrochen. Das Motiv des „Karfreitagszaubers“, das ihm daraus erblühte, ist der dichterisch-musikalische Aus­druck für dieses kosmische Christuserlebnis. Wenn sein Parsifal nach langer Irrfahrt und bestandener Prüfung wiederum den Gralsbezirk betritt und nun am „höchsten Schmerzenstag“ die Aue in lieblichster Verklärung vor sich erglänzen sieht, da wird ihm jene Gralsbelehrung zuteil, dass die Kreatur zwar den Erlöser nicht selber am Kreuze erschauen könne, aber mittelbar, im Auf blick zu dem erlösten Menschen, die Wirkung des göttlichen Liebes­opfers empfindend aufzunehmen vermöge:

Das dankt dann alle Kreatur,

Was all‘ da blüht und bald erstirbt,

Da die entsündigte Natur

Heut ihren Unschuldstag erwirbt.

Im Bilde dieses Karfreitagszaubers kann vor unserm ahnenden Blick die Größe des neuen Christusimpulses und sein umfassendes Naturwirken aufsteigen. Es wird in der Erfüllung der Aussendungsworte des Markus-Evan­geliums bestehen : „und verkündigt das Evangelium aller Kreatur . . .“

Das Lukas-Evangelium.

In ferner Zukunft wird nun das Christuswirken zu noch höheren Stufen seiner, Offenbarung aufsteigen, als wir sie im Sinne des Markus-Evangeliums umschreiben konnten. Die Lukanische Stimmung – sie, die vom Mittel­alter her so viele Maler inspiriert und so unzählige Herzen beseligt hat – kann uns schon jetzt mit einem Hauch jenes Geistes durchwehen, der einstmals eine ganze Kulturepoche gestalten und ihr ein wirklich christliches Gepräge ver­leihen will. Es wird sich alsdann der Christus selber in einer noch höheren Daseinsform offenbaren können. Er wird im Reich der Seele Gestalt gewinnen. Das Lukas-Evangelium weist die Wege zu diesem Christus-Erlebnis der Zukunft.

Die Lukanische Darstellung fällt zunächst dadurch auf, dass sie wiederum – und zwar nun viel entfalteter als Matthäus – eine Kindheitsgeschichte Jesu vorausgehen lässt. Auch sie enthält einen Stammbaum Jesu; aber einen ganz anders gearteten.*) Dieser führt über das Volkstum hinaus und mündet in Adam, oder genauer ; in Gott. Denn Adam wird als ein „Sohn Gottes“ in dieser Geschlechter-tafel bezeichnet. Es ist, als sei das Gottesebenbild, das der Urmensch nach biblischer Darstellung gewesen, in ge­heimnisvollem Sinne durch diese bestimmte Geschlechter­folge hindurchgetragen und nun in Jesus zu vollem Glanze wiedererweckt worden. Das Allmenschliche, das über allen nationalen Unterschieden Stehende tritt uns in jenem Kinde entgegen, das da in der Krippe zu Bethlehem geboren wird. Dieses Kind trägt die heiligen Ursprungskräfte der Menschheit wieder ins Erdenleben herein. Damit aber solches geschehen konnte, musste der Herniederstieg jener Seele zur Erde auf ganz besondere Weise vorbereitet wer­den. Lukas weist durch die Verkündigung des Engels an Maria auf dieses Geheimnis hin. Im Zustand unschuldsvollen Empfindens – „ohne dass sie von einem Manne wusste“ – empfängt die junge Gattin Josephs das Kind. Was sich bei dieser Empfängnis irdisch abspielt, bleibt ihrem Bewusstsein verhüllt. Was sich aber aus dem „hei­ligen Geiste“ herabsenken will, offenbart sich ihrem inneren Sinn. Weil bei dem Herniederstieg dieses Kindes nichts aus der Begierdennatur eines Sinnenmenschen mitgewirkt hat, ist die Lichtnatur dieser einzigartigen Seele nicht verdunkelt worden, als sie den Weg ihrer Menschwerdung antrat. Es brauchten ihr die Erinnerungskräfte nicht zu verlöschen, die zum Gottesursprung unseres Daseins zu­rückleiten.

*) Siehe Kap. 3, 23 ff. Es würde den Rahmen dieser Skizze sprengen, wenn wir die Lösung der Widerspräche aufzeigen woll­ten, die zwischen den Stammbäumen des Matthäus und Lukas bestehen. In den Evangelien-Vorträgen Rudolf Steiners ist diese Lösung zum ersten Male gegeben worden.

Raphael hat in seiner Sixtinischen Madonna dieses Geheimnis auf künstlerische Art darzustellen gesucht, in­dem er die Maria selbst wie aus Wolkenhöhen hernieder-schreiten lässt und das heilige Kind auf ihrem Arm so gestaltet, als sei es soeben aus jenem Lichtgewölke her­ausgekommen und an der Brust der reinen Mutter ver­dichtet worden. Aber er lässt die zarten Wolken über ihr transparent werden. Man sieht aus diesen viele Kinder­antlitze hervorscheinen, die sich ebenso nach der Verkör­perung sehnen. Im Anschauen des Gemäldes kann man die Empfindung gewinnen: sie möchten auf die gleiche Art zur Erde herniedergetragen werden wie jenes himm­lische Kind, das auf den Arm der Madonna herabgestiegen ist. Damit leuchtet ein hohes Ideal zukünftiger Mensch­werdung vor uns auf. Neben die Gestalt des Christus Jesus darf das Bild der jungfräulichen Mutter treten.

Zunächst wurde ja durch den Marienkultus viele Jahr­hunderte lang ein Strom heiliger Empfindungen in Men­schenseelen hineingeleitet, der eine Atmosphäre der Seelen­reinheit und demütigen Empfänglichkeit auszubreiten ver­mochte. In der Mystik des ausklingenden Mittelalters ver­wandelt sich dann diese aufschauende Verehrung in ein geheimnisvolles Einswerden der Menschenseele mit jener mütterlichen Gestalt:

Ich muss Maria sein und Gott in mir gebären,

Angelus Silesius

In solchen Sprüchen hat der Mystiker Angelus Silesius die Lukanische Seelenstimmung verkündigt.

Es vermag nun das ganze Lukas-Evangelium in glei­chem Sinne als ein Stufenweg der mystischen Versenkung gelesen zu werden. Der Verfasser, der im Vorwort zu seinem Evangelium ausdrücklich betont, dass er die rechte „Reihenfolge“ und „Anordnung“ der Begebenheiten zum

ersten Male hergestellt habe, deutet damit selbst auf den „Pfad“ der Christusjüngerschaft bin; immer wieder weiß er gerade von den Stufen des „Pfades“ zu künden. Die Bilderfolge der von ihm dargestellten Begebenheiten will in der Seele des Lesenden oder Hörenden nachgeschaffen werden. Sie gibt gleichsam einen Leitfaden für Meditations-erlebnisse an. Für die meditative Versenkung kann dieser Weg zu einer „inneren Christgeburt“ und zu all jenen darüber sich aufbauenden Stufen geistigen Wachstums hinführen.

Auf solchen inneren Seelenpfaden wird das Christen­tum einer fernen Zukunft schon in der Gegenwart vorbe­reitet, das einstmals eine ganze Kulturepoche mit geläuter­ten Lebensempfindungen durchziehen soll. Was in einzel­nen Seelen zunächst durch geistige Schulung errungen werden kann, soll in einem späteren Zeitpunkt umfassen­der Kulturimpuls werden, sodass sich die Glorie des Weih­nachtsgeschehens über alle Lebensbeziehungen weithin ausgießen wird. Es müssen dann allerdings, weil der dro­hende Niedergang der menschlichen Rassen schon einen ge­wissen Tiefpunkt erreicht haben wird, so dass sich die Verkörperungsmöglichkeiten für die Seelen immer schwieriger und unter der unheilvollen Erblast der Geschlechterfolgen immer tragischer gestalten werden, genügend viel christ­liche Individualitäten da sein, die das Mariengeheimnis im vollen Sinne darzulegen vermögen. Sie können, wenn sie selber bis in ihre tieferen Lebenskräfte hinein durchchristet. sein werden, den herabsteigenden Seelen auf un-schuldvolle Weise die Leibeshüllen bilden helfen. Sie wer­den im Bunde mit Engeln – wie es im Beginn des Lukas-berichtes dargestellt wird – die Menschwerdung der zur Erde drängenden Kindesseelen vorbereiten. Aus der Zwie­sprache mit übersinnlichen Welten, nicht aus materialistischen „erbbiologischen“ Theorien oder gar auf Grund von „bevölkerungspolitischen“ Programmen, wird der hei­lige Strom der Seelen zur Erde geleitet werden. Er wird gemäß einer geistgetragenen Eugenetik, die auf echter Opferweisheit aufgebaut sein muss, seine Regelung erhalten.

Durch die Art, wie Seelen künftig empfangen und erwartet werden, kann ihnen das Leibesgefäß so zube­reitet werden, dass sie von Kindheit an – unterstützt durch eine diesen Erkenntnissen entsprechende Erziehung – jene Heileskräfte in sich tragen, deren sie zu ihrem geistigen Aufstieg bedürfen. Ohne solche, von Opferwillen gelenkte Weisheit würden in künftigen Epochen gewisse hochentwickelte Seelen überhaupt nicht mehr in Erdenkörper un­tertauchen können. Andererseits würden viele verfinsterte Seelen, die sich in ihren vergangenen Erdenleben an Zer­störungskräfte hingegeben haben, von sich aus gar nicht mehr gesunde Leibeshüllen aufbauen können ; sie dürfen auf der Erde einen Neubeginn für ihre Entwicklung machen, indem sie durch die geläuterten Lebenskräfte anderer, die ihnen aus bewusster Einsicht und Opferge­sinnung Hilfe bringen wollen, die Hülle dargereicht er­halten. Es sind Mysterien stellvertretender Liebesgesinnung, die einstmals zum Heile der Menschheit wirksam werden sollen : Seelen, die sich durch ein Maß von Schuld, das sie niemals mehr allein zu sühnen vermöchten, den Weg zu weiterer Entwicklung verbaut haben, bekommen neue Gnadenmöglichkeiten. Es wird ihnen eine von reinsten Lebenskräften durchwaltete, harmonische Leibesform dar­gereicht, in welche sie Einzug halten und in ihr gepflegt werden können. So wird ungezählten Seelen die rettende Hand geboten, wiederum an den Menschheitszielen, die eben nur durch irdische Verkörperungen stufenweise er­rungen werden können, teilzuhaben, obgleich diese Ziele vielleicht von ihnen im Dunkel ihrer vergangenen Leben verleugnet oder gar verhöhnt worden sind.

Damit wird auf ganz neue Formen des sozialen Le­bens hingedeutet. In ihnen muss immer mehr an die Stelle der richterlichen Haltung die heilende Gesinnung ge­setzt werden. Und zwar handelt es sich um Heilwirkun­gen, die sich über verschiedene Erdenverkörperungen hin-erstrecken. Es wird die Aufgabe einer bis in alle Einzel­heiten hinein sich auf dem Opfer von Golgatha aufer-bauenden sozialen Ordnung sein, so starke moralische Heilkräfte zu entfalten, dass sie den moralisch Schwachen wird tragen, den Verbrecher nicht wird ausstoßen wollen. Sie wird ihn, wie ein krankes Organ am Menschheitsleibe, durch überströmende Gesundungskräfte auszuheilen suchen. Denn auf jede Untat, die von diesem oder jenem vollbracht wird, wird dann eine Opfertat antworten. Allerdings muss dieses eine aus Einsicht in die Urgründe der Schuld und Schicksalsverkettung entspringende Opferhandlung sein. Denn nur, die „aus Mitleid wissend“ geworden sind, werden dann im rechten Sinn Opfernde und dadurch Hei­lende sein können. Sie werden, indem sie den Ursprung des Bösen erforschen und erkennen, auch die Mittel er­sinnen, wie das Wilde und Blindwirkende innerhalb der Menschennatur urbar gemacht, wie es zu einem höheren Guten verwandelt werden kann. So werden einst „Magier des Guten“ über die Erde schreiten. Das Wesen der „weißen Magie“ besteht in der Handhabung solcher moralischen Verwandlungskräfte.

Für alles dieses, was hier nur angedeutet werden kann, ist im Lukas-Evangelium das Urbild gegeben. Wir brauchen nur an seine herzbewegenden Gleichnisse und vielen Heilungsberichte zu denken. Es ist das Evangelium der rettenden Liebe: eine Weissagung auf die höchsten Heilandskräfte, die einer in Abgründen versinkenden Mensch­heit zu Hilfe kommen wollen.

Die Zeitenführung stellte immer schon einzelne Träger von Zukunftsimpulsen, wie Frühgeburten, in die Mensch­heitsentwicklung hinein. Sie lebten in prophetischer Art ein erhabenes Ziel voraus. Franziskus und eine Reihe ähnlicher Erscheinungen des Mittelalters können als solche Vorläufer des Lukanischen Zeitalters betrachtet werden. Es wird erzählt, wie der Heilige von Assisi die Aussätzigen an sein Herz nahm, wie er sie bei verfaulendem Leibe küsste und ihnen in Demut die Geschwüre auswusch. Da vollzogen sich Wunder der Gesundung als Ausstrahlungen seiner heiltragenden Lebenskräfte. Es war eine Offen­barung überströmenden Liebesmutes, in welchem das Feuer der Seraphirn glühte. So wurde eine ganze Rasse vor dem Niedergang bewahrt, der ihr damals von jenen um sich greifenden Epidemien drohte. Denn die Taten dieses „Pater seraphicus“ hatten fortzeugende Kraft innerhalb seines Zeit­alters. Sie leiteten eine mächtige Geistesbewegung ein, die das gesamte Kulturleben bis in die Künste und Lebens­empfindungen einiger nachfolgender Generationen durch­drang. Sie wirkten als eine weit ausstrahlende Kultur­therapie. Das Christentum begann von jener Zeit an aus der Umklammerung durch den Geist Roms allmählich be­freit zu werden. Nicht in äußerlichem Sinne trat zwar Franziskus gegen die römische Kirche auf. Er verbrauchte seine Kräfte nicht in konfessionellen Streitigkeiten wie jene Bewegungen, die sich später „reformatorische“ nann­ten. Er begann jenen Geist von innen her zu besiegen, indem er weder dem Kranken, noch dem Verbrecher, noch dem Ungläubigen mit der Gebärde des Richtenden, son­dern immer nur des Heilenden, eines Arztes Leibes und der Seele, gegenübertrat. Seine überirdische, aber die Erde heiligende Liebe ging aus, „zu suchen, was verloren ist“. Wir können diesen Geistesimpuls, der erst in einer künf­tigen Epoche das Gesetz allen sozialen Lebens werden soll, „Manichäismus“ nennen. Der Grundgedanke der Manichäer, dass die Lichtwelt in Urzeiten einstmals aus ihrer Substanz heraus ein Opfer an die Finsterniswelt ge­bracht habe und dass die Menschheit selber diese aus gött­lichem Willen an die Tiefe hingeopferte Lichtsubstanz sei, wirkt auf verborgene Weise innerhalb der christlichen Geistesströmung weiter. Äußerlich hatte Rom es verstan­den, das Manichäertum gründlich auszurotten. Als Geistes­funken jedoch, die in die Menschheit ausgesät sind und sich immer aufs neue in Seelen entzünden können, zeugt es sich unverlöschbar fort. Es mag richtig sein, dass die Lehre des großen persischen Religionsstifters aus dem 3. Jahrhundert noch „zu früh“ erschienen war. Aber den­noch, Manes musste „zur Unzeit“ da sein, damit Zukunfts­saat vorbereitet werden konnte. Es soll der Christusimpuls, wie er erst einem künftigen Lukanischen Zeitalter in vol­lem Sinne entsprechen wird, in Seelen prophetisch auf­flammen, die von Zeit zu Zeit die manichäisehe Aufgabe vorleben und damit ein hehres Ziel ahnen lassen. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob solche Seelen dabei äußerlich an die Ideenwelt des Manichäertums anknüpfen; sondern auf das allein, was in ihren Gesinnungen lebt, was als Seelenglut durch ihre Handlungen in die Umwelt einströmt.

Wäre z. B. die Bewegung des Franziskus gegen das Ende des Mittelalters zum umfassenden Kulturimpuls ge­worden, so hätte die christliche Strömung eine größere Anzahl Seelen damit in eine zu schnelle Vergeistigung ihres Wesens, vor allem auch durch die leibverachtende Askese und die Abtötung alles Persönlichkeitswillens, hineingetrieben.8) Wohl hätte sich sehr stark die Brüderlichkeit, ein innig wirkender Gemeinschaftssinn herausgebildet; aber auf Kosten der individuellen Freiheit, der persön­lichen Selbständigkeit. Die Menschenseelen würden wohl hingabefähig geworden sein, jedoch ohne erst alles das entwickelt und aus den eigenen Wesenstiefen heraufgeholt zu haben, was die Individualität schöpferisch macht. Sie würden im Opfer ausfließen,, ehe sie ihren ganzen Reich­tum gewonnen hätten, der aber erst das Opfer im höch­sten Sinne wertvoll macht. Deshalb mussten gegen das Ende der mittelalterlichen Zeit gewisse andere Strömungen in den Vordergrund treten, wie sie in Renaissance und Humanismus heraufkamen und den Menschen zunächst für die Erde, für die Entfaltung aller irdisch-menschlichen Anlagen gewinnen wollten, damit er sich nicht zu schnell in die Himmel hinein verflüchtige. Gewiß kann man die­sen Geist der heraufziehenden „Neuzeit“ als eine Vergröberung der Menschennatur und ihrer Kulturformen gegenüber dem Geist der Gotik empfinden. Aber er macht andererseits die menschliche Persönlichkeit bodenständiger. Sie wird dadurch reicher und umfassender, sodaß sie – wenn sie durch das Zeitalter der Freiheit zur vollen Aus­gestaltung ihrer Anlagen gekommen sein wird – dereinst ein umso machtvolleres Opfer wird bringen können. Sie wird in einer zukünftigen Gemeinschaft umfassendere Tragekräfte entfalten und die Liebefähigkeit in immer tiefere Abgründe hinabzutragen vermögen.

Das Johannes-Evangelium.

Schreiten wir von dem Lukas-Evangelium nun zu dem letzten der vier Evangelien weiter, so kann es uns zunächst sein, als würde jener wärmende Seelenmantel abgestreift, in den alles Geschehen eben noch eingehüllt schien. Als weiche jene Glorie des Weihnachtslichtes, das den Hirtenherzen im Weltendunkel erglänzte, einer tag­hellen Klarheit. Einer Klarheit, vor welcher das Dämmer­dunkel menschlichen Seelenwebens, erdennaher Gemüts­wärme zu zerrinnen scheint. Lukas ist das Evangelisten-symbol des nährenden, mütterlichen Rindes zugesellt. Es deutet auf die Naturnähe des Empfindens hin. Der Adler des Evangelisten Johannes aber entringt sich aller Erden-schwere. Der Adler ist ja der Vogel, der mit offenem Auge dem Sonnenlicht entgegenfliegen kann, ohne dass ihm die Netzhaut zerstört wird. Die überweltliche Klarheit der Christussonne erstrahlte dem Jünger, „den der Herr lieb hatte“. Er weist uns zu jener Herrlichkeit Christi hin, die nur einem Auge offenbar werden kann, das jen­seits des Sinnentages zu erwachen vermag.

Im Johannes-Evangelium ist nicht mehr von den menschlichen Ursprüngen des Christus Jesus die Rede. Hier wird unerbittlich die Kluft in den Reden aufgerissen: „Ihr seid von unten, Ich bin von oben.“ Es ist, als stünden nicht mehr Menschen, aus irdischen Situationen hervor­gehend, einander gegenüber. Es sind Weltenmächte – Licht und Finsternis, Oben und Unten – , die miteinander rin­gen. Und Menschen sind nur noch Träger oder Werk­zeuge dieser kosmischen Gewalten. Denn die Finsternis,

die bisher nur von außen her das Licht empfing, die zwar von ihm „beschienen“ wurde, aber es „nicht begriffen hatte“, sie muss von nun an gewahr werden, wie das Licht Einzug gehalten hat in die finsternisdurchwaltete Erden-welt; wie es sieh opfernd in diese Finsternis ergießen

will: damit die Finsternis „das Licht begreife“ . . . Das aber ist die große „Krisis“. Es ist dieses ja eines der Grund­worte des Johannes-Evangeliums, das wie nach musika­lischen Gesetzen aufgebaut erscheint und bestimmte Motive erklingen lässt, sie weiterentwickelt, mit andern verwebt, ­um sie auf höherer Stufe dann wiederkehren zu lassen.4)

Christus ist im Johannes-Evangelium der „Logos“: das. Schöpferwort, das alle Dinge ins Dasein gerufen hat. Das Erschaffene aber hat sich seit langen Zeiten seinem Urbeginn entfremdet; es ist gleichsam seinem Schöpfer entfallen, es kennt ihn nicht mehr. Damit aber entfällt es ins Nichts, in die Vernichtung. Indem jedoch der Schöpfer in seine Schöpfung eingeht, ruft er sie zu sich zurück. Er erinnert sie gleichsam an ihren Urbeginn. Der Weltenschein vergeht. Das Wesen, das sich in seinen Ur­ständen wieder erfassen lernt, besteht. Es geht für die Geschöpfe dieser Welt von nun an darum, ob sie der Vergänglichkeit verfallen oder zu ihrem wahren Wesens­grunde zurückfinden wollen. Zu dieser Entscheidung wer­den sie aufgerufen. Das Wort „Krisis“, in der Bibel ge­wöhnlich mit „Gericht“ übersetzt, meint „die Entscheidung“, so wie es ja in der ärztlichen Sprache auch in diesem Sinne gebraucht wird. Tod oder Leben – als endgültige Schicksalsentscheidung – sind es, die aus jener Wahl her­vorgehen, die ein Wesen zu treffen hat, wenn das Licht in seine Finsternis einstrahlt. Das „Begreifen des Lichts“ ist ein Erkenntnisvorgang. Aber solches Erkennen voll­zieht sich nicht in der intellektuellen Sphäre; es ist ein Sichaufschließen, ein inneres Antwortgeben aus den tief­sten Wesensgründen der Menschennatur, wenn sie den Gruß des Lichts, die Gegenwart des Göttlichen gewahr wird. Dieser Entscheid kann nur aus Willenstiefen auf­steigen. Er ist zugleich ein Sichselbstfinden, ein Sichbejahen in seinem eigensten, aus Gott hervorgegangenen Sein.

Für diese „Krisis“, die Tod und Leben einschließt, gilt das johanneische Wort: „es kommt die Stunde und ist schon jetzt . . .“ Denn sie ist, indem das Licht in die Finsternis eingetreten ist. Aber sie erreicht nicht jeden Einzelnen sogleich. Es ist eine Schicksalsfrage, wann sie „akut“ wird für diesen und jenen. Das heißt: wann in­nerhalb seiner Schicksalsführung der Augenblick der Christusbegegnung in jenem Sinne eintritt, dass es für ihn kein Ausweichen mehr gibt. Dieser Augenblick kommt für jeden Menschen einmal, unentrinnbar, im Laufe seines Erdenwerdens. Jeder reift ihm, in Dumpfheit gehüllt, ent­gegen: sei es nun in dieser oder erst innerhalb einer künftigen Verkörperung. Im Johannes-Evangelium ist zu­nächst nur von Einem Jünger die Rede, für den diese „Stunde“ schon gekommen war. Das ist Lazarus; von ihm heißt es ja, dass ihn „der Herr lieb hatte.“ Lazarus er­krankt. Aber diese Krankheit war, wie Christus selber sagte, nicht „eine Krankheit zum Tode“, sondern die Lebenskrisis des Jüngers, durch welche es offenbar werden sollte, daß er „vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ sei. Deshalb heißt es: sie sei „zur Offenbarung des Gottes“ – nämlich des Gottes in ihm -, „damit der Sohn Gottes dadurch of­fenbart werden sollte.“ 5) Wiederum gehört es zu den be­deutsamsten Aufschlüssen, die Rudolf Steiner für ein neues Evangelienverständnis zu geben imstande war, dass er das Lazaruskapitel im Sinne einer Einweihung (nicht einer äußerlich zu nehmenden Totenerweckung) gedeutet hat. Lazarus ist der Lieblingsjünger und damit der Verfasser des Johannes-Evangeliums, der an sich selbst die große Lebenskrisis bereits erfahren durfte. Für ihn war „jetzt schon die Stunde“. Er ging durch eine tiefste Erkrankung, die aber nur als Geburtswehen des höheren Menschen er­klärlich ist. Um mit Novalis zu reden: die „transzen­dentale Gesundheit“, die sich in ihm zu regen begann, konnte nicht anders  durchbrechen, als daß die sterbliche Natur in ihm erkrankte und durch das Sterben geführt wurde. Aus der Kraft Dessen, in dem wir wesenhaft urständen, aus dem Schöpferwort, das uns. im Urbeginn ins Dasein gerufen, ersteht er zu neuem Leben. Sein Ich erfasst sich in Dem, der sagen durfte: „Ich bin die Auf­erstehung und das Leben. Wer an mich glaubt (wer mich erfühlt in sich), der wird leben, ob er gleich stürbe . .“ Dieses sich in Christus findende, man darf auch sagen: sich wiederfindende Ich ist aber zugleich die Quelle un­seres neuen Lebens. Denn es lebt selber in der Schöpfer­macht, die uns von Dasein zu Dasein aufs neue die Lebens­form schenkt. Lazarus, der bereits dem irdischen Leibe nach mehrere Tage im Felsen grabe von Bethanien gelegen war, findet aus der heiligen Lebensberührung mit dem Christus die Auferstehungskräfte. Sie erneuern ihn bis in die zer­fallende Leiblichkeit hinein. Sie besiegen die Todeswirkungen in ihm. Es ist ein völlig erneuertes und aus ganz andern Lebensquellen gespeistes Körperdasein, in welchem fortan dieser Jünger über die Erde wandelt. Andere, die ihn kannten, sagten deshalb von ihm : „Dieser Jünger stirbt nicht . .“ Aber das Johannes-Evangelium lehnt diese Redeweise ab (Joh. 21). Denn wohl muss auch dieser Jünger noch seine Leibeshülle ablegen. Aber „er bleibt“. Er lebt, der „Krisis“ enthoben, – vom Tode zum Leben hindurchgedrungen – dem großen Ereignis der Wieder­kunft des Christus entgegen. „Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme .. .“ sagt der Auferstandene von ihm. Lazarus, den wir auch den Jünger Johannes zu nennen gewohnt sind, „bleibt“ mit der Menschheitsentwicklung verbunden. Er führt sie der großen Offenbarung entgegen, für die zwar immer „die Stunde“ ist; die aber erst in einer fernen Zukunft alles Leben der Menschen auf Erden mit apokalyptischer Gewalt erschüttern wird. Wir können in diesem johanneischen Sinne noch von einer dritten übersinnlichen Offenbarung des Christus sprechen. Rudolf Steiner hat sie einmal so umschrieben, dass er den Christus „das große Ich der Menschheit“ genannt hat, das sich auf dieser dritten Stufe künftighin enthüllen wird. In der Apokalypse wird sie so dargestellt, da sie mit Schwertgewalt ins Dasein der Menschen ein­tritt. Sie führt unerbittlich zur Scheidung der Geister. Damit löst sie alles, was wir uns heute als irdische Kul­tur vorstellen können, in welcher die Menschen auf man­nigfaltige Weise mit guten und schlimmen Kräften noch gemeinsam ihr Leben führen, endgültig auf. Das Schwert des Geistes, das dem Christus als dem „großen Ich der Menschheit“ aus dem Munde hervorgeht, trennt ja Leben und Tod von einander. Es treibt in die Krisis. Menschen werden Erfahrungen durchmachen, für die das Lazarus-erlebnis in gewissem Sinne das Urbild ist. Sie werden durch tiefe „Erkrankungen“ gehen, die aber zur Begrün­dung ihrer „transzendentalen Gesundheit“ führen. Dann allerdings werden sie sich aus dem Niedergang der Ge­nerationenfolge hinausringen. Sie werden die auf natür­liche Vererbung beruhenden Körperformen endgültig ab­streifen und zu ganz anderen Daseinsstufen, wenn auch noch mit dem Leben der Erde verbunden, übergehen lernen.

Das Johannes-Evangelium wird also erst in. einem Zeitalter, das noch auf das Lukanische folgen würde, seine eigentliche Inspirationsepoche erleben. Dann soll sich erst in vollem Sinne verwirklichen, was der Meister in seinen Abschiedsreden den Jüngern verheißt: „Ihr werdet die Werke auch tun, die Ich getan habe, und werdet noch größere als diese tun.“ Diese Werke sind die sieben „Zeichen“ (von der Hochzeit zu Kana bis zur Lazaruserweckung), die im Johannes-Evangelium den Stufengang der Wandlungskräfte darstellen, welche durch Christus in das Erdendasein einfließen wollen. Es ist eine stufenweise sich steigernde Wandlungsmacht, die da wirk­sam wird. Sie kann auf das geläuterte Ichwesen derer übergehen, die die Jüngerschaft im johanneischen Sinne anstreben.

Viele Menschen, die in der Gegenwart nach einem durchgeistigten Christusverständnis streben, empfinden ge­rade eine tiefe Verwandtschaft zu dem Johannes-Evan­gelium. Sie empfangen aus der meditativen Versenkung in diese Schrift eine innere Richtekraft, die vor ihnen ein höchstes Geistesziel aufleuchten lässt. Diese Richtekraft wirkt als schicksalgestaltender Impuls in die folgenden Erdenleben hinüber und läßt sie dadurch der großen Be­gegnung mit dem Christus-Ich entgegenreifen. Die Medi­tation über die johanneischen Texte, vor allem aber über die Abschiedsreden des Christus, führt zu der tiefsten Einwohnung des Christus im Menschen-Ich. Es wird durch sie ein rein geistiges Kommunions-Erlebnis vorbereitet : eine Empfängnis des Christuswesens bis in Leib und Blut hinein.9

Wiederum können wir von einem solchen Gesichts­punkt aus auf etwas aufmerksam werden, was für das Johannes-Evangelium bedeutsam ist. Es fehlt nämlich in seiner Schilderung der Abschiedsnacht die Feier des Abend­mahls. Der Meister setzt nicht das heilige Mahl als sakramentale Handlung ein, die die Jünger fortan „zu Seinem Gedächtnis“ vollziehen sollen. Statt dessen aber vollzieht Er an Seinen Jüngern die „Fußwaschung“. Er stellt sie vor, ihre Seelen als eine urbildliche Handlung hin, die auch sie untereinander üben sollen. Denn „wer Mein Brot ver­zehrt, der setzt den Fuß auf Mich“ – so deutet Er ihnen diese Handlung. Noch verstehen sie es nicht; aber sie werden es verstehen in seinem tiefsten Sinn, was Er da­mit getan hat, wenn es erst zur vollen Wirklichkeit ge­worden ist. „Auf dass, wenn es geschehen ist, ihr glaubet, dass Ich bin.“

Was aber ist es, das geschehen soll? – Der Christus hat sich durch Sein Opfer, zu dem Er sich anschickt, mit dem Leben der ganzen Erde vereinigen wollen. Sie aber werden künftig über die Erde Hinschreiten und den Fuß auf Seinen Leib setzen. Die Menschen werden es zunächst nicht wissen, dass Er es ist, der da auf über­sinnliche Weise in diesem Planetenleibe west und ihn mit Seiner Seele immer tiefer durchdringt. Die Jünger jedoch sollen es wissen. Deshalb müssen gerade die Füße der Jünger geheiligt werden. Die Füße sollen die Organe sein, mit denen der Christ die Erde gleichsam abtastet, um in Ehrfurcht den Planetenleib als ein Heiliges zu er­fühlen, das ihn trägt und nährt. Im Abschreiten der Erdenwege wird er das Schicksal erfüllen, das ihm aufer­legt ist: Vergangenheiten zu sühnen und Zukünfte erbauen zu helfen. Und ihm wird in solcher Gesinnung die Gegen­wart des Christus offenbar werden, wie Er sich durch Sein Liebesopfer allem Erdendasein mitgeteilt hat, wie Er selber zum innersten Herzschlag alles Erdengeschehens geworden ist.

Damit steigt vor unserem ahnenden Blicke das Christus­erlebnis in seiner kosmischen Realität auf. Wenn einstmals die Allgegenwart Christi im Erdendasein zur ständig sich erneuernden, sich steigernden Lebenserfahrung geworden sein wird, bedarf es keiner besonderen Religionsübung mehr. Der Umgang des geisterfüllten Menschen mit der Erdenwelt wird selbst ein dauerndes sakramentales Ge­schehen sein dürfen. Die Einsetzung des heiligen Abend­mahls durch den Christus Jesus und die Feier dieses hohen Sakraments im christlichen Kultus ist die Vorschule zu jenem künftigen Erleben, in welchem die von Christus durchleuchtete Erdensubstanz als Sein Leib erfahren wer­den darf. Die drei ersten Evangelien enthalten deshalb die Beschreibung dieses Abendmahls. Das vierte enthält sie nicht mehr, dafür aber an jener Stelle die Fußwaschung, welche das durchchristete Erdenerlebnis vermitteln soll.

Aber auch diese Handlung bildet nur die Einleitung zu dem eigentlichen Passionsgeschehen, wie es Johannes darstellt. Es ist ja das einzige Evangelium, in welchem der Jünger unter dem Kreuze von Golgatha steht. Die Golgatha-Ereignisse wollen, im Sinne dieses Evangelisten, innere Realitäten werden. Sie geschehen nicht nur „für uns“, wie es in den anderen Evangelien heißt: „für euch gegeben, für euch vergossen . . .“ Sondern sie sollen auch „in uns“ vollzogen werden :

Das Kreuz von Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,

So es nicht auch in dir wird aufgericht‘, erlösen. (Angelus Silesius)

Es handelt sich, im Sinne dieser geistigsten Gestalt des Christentums, für die Menschheit darum ob sie selbst in jenes fortdauernde Golgatha-Geschehen mit einbezogen werden will; ob sie jeweils das menschliche Ich in das kosmische Ich hinaufzutragen vermag, um mit ihm und in ihm den vollkommenen Sieg über den Tod zu erfahren. Das aber bedeutet als Ziel: die Abstreifung der vergäng­lichen Leibeshülle und das Auferbauen jener neuen Lebens­gestalt aus dem Geiste heraus, deren Urbild der Aufer­standene mitten unter den Menschen darleben wird: sicht­bar für aller Augen, die Ihn suchen.

Apokalyptische Motive.

Wir haben an der Hand der Evangelien einen Aus­blick auf drei Stufen der künftigen Christusoffenbarung gewinnen können. Sie spiegeln die allgemeine Bewusstseinsentwicklung wider, in der die Menschheit begriffen ist. In jener Zeit, da sich die entscheidenden Ereignisse von Palästina abgespielt haben, war das menschliche Bewusstsein so sehr auf die Anschauung der physisch-sinn­lichen Welt beschränkt, dass sich ein Gotteswesen zu sei­nem Heile nicht anders offenbaren konnte, als wenn es selber in die Erdengestalt des Menschen Einzug hielt. Von der Rückschau auf diese heiligen Geschehnisse hat die christliche Menschheit bis jetzt im Wesentlichen gezehrt. Es war noch ein rückblickendes, an historische Überlieferungen gebundenes Erleben. Dieses aber ist beute in Gefahr, mehr und mehr seine unmittelbare Überzeugungskraft für weite Kreise der Kulturwelt zu verlieren. Es müsste zu einem Versiegen der christlichen Geistesströmung kommen, und zwar in kürzester Frist, wenn sich der Seelenblick nicht allmählich zu weiten begönne und in andere Lebensreiche vordränge, die sich jenseits des Sinnenscheines auftun können. Aus den Tiefen der Stoffes-welt, in die sich der Christus selbst hinabbegeben hat, um die Menschheit zu sich zurückzurufen, wird Er sie stufenweise nach sich ziehen : ihr voranschreitend, neue Lebensräume aufschließend, bis Er die in den Abgründen des Daseins irrenden Seelen zu ihrem „Urbeginne“ zurück­geführt haben wird. „Ich will, wenn Ich von der Erde erhöht werde, alle zu mir ziehen.“ (Joh. 12, 32.)

Aber ebenso, wie sich die Menschheit mit ihrem Bewusstsein künftig immer mehr über die Sinnensphäre hinausleben wird, so ist sie einstmals stufenweise aus Offen­barungswelten zu immer dunkleren Regionen hinabgesunken. In den Kulturen der vorchristlichen Zeit spiegelt sich ein dreistufiger Abstieg, wie sich in den jetzt her­aufdämmernden Kulturzeitaltern der Wiederaufstieg zu den Geisteshöhen vollziehen soll. Man kann von diesem Ge­sichtspunkte aus die Menschheitskultur in sieben Zeiten-kreise gegliedert vorstellen : drei absteigende, die die Menschwerdung des Christus vorbereiten sollten; eine mitt­lere, in welcher Er unser Erdenschicksal – Geburt und Tod – auf sich nahm, um es sühnend wieder zum Geiste hinaufzuheben; darauf noch drei nachfolgende, in welchen sich die Christusoffenbarung in gewissem Sinne immer unmittelbarer darstellen soll, bis sie sich in der Enthül­lung des Christus als des großen „Ich Bin“ der Mensch­heit vollenden wird. Es ist das siebenfältige Licht, in welchem die Christusherrlichkeit vor den Seelenblicken der Menschen erstrahlen will. Die Offenbarung Johannes spricht an ihrem Beginn von den „sieben goldenen Leuchtern“, zwischen denen der Christus als der ewige „Menschen­sohn“ wandelt.

Nun aber sagt sie: jene sieben Leuchter seien zu­gleich sieben Gemeinden. An diese sieben, mit Namen genannten Gemeinden richtet der Apokalyptiker sieben Sendschreiben, die er im Auftrage des Christus selber nie­derzuschreiben verpflichtet ist. Es handelt sich da ja zu­nächst um sieben, an der Küste Kleinasiens gelegene Städte, in denen urchristliches Gemeindeleben blühte, wäh­rend zugleich die Christenverfolgung unter dem Kaiser Domitian die jungen Keime christlichen Geisteswirkens tödlich bedrohte. Johannes schaut von Patmos aus auf diese sieben Gemeinden hin. Sie leuchten im Weltendunkel. Aber jede auf andere Weise. Denn in ihnen spiegelt sich teils, wenn auch in christlichem Gewande, uraltes Geistes­leben wider. Teils aber lebt in ihnen etwas wie eine Früh­blüte künftiger Bewusstseinsformen des Christusimpulses. Es sind sieben wirkliche Gemeinden, und doch stellen sich in ihnen zugleich sieben Kulturepochen mit ihren großen Entwicklungsmöglichkeiten wie auch mit ihren Gefahren und Abirrungen dar. Sprechen wir in der Ausdrucksweise der spirituellen Wissenschaft, wie sie Rudolf Steiner ge­prägt hat, so können wir sagen: die drei ersten Gemein­den von Ephesus, Smyrua, Pergamos spiegeln in ihrer Grundhaltung – ihren Vorzügen wie ihrer Problematik ­die uralt-indische, die urpersische und die ägyptisch-chal-däische Epoche (aus der sich später die althebräische Strömung aussonderte) wider. In diesen weisheitgetrage-nen Kulturen des Altertums lebte bereits etwas wie ein majestätischer Vorschein des Christuslichtes. Sein Lichtes-wesen war gleichsam der übersinnliche Quell all ihrer großen Inspirationen, die z. B. in den Veden Indiens noch wie ein später Nachklang zu finden sind oder in der Zarathustraverkündigung vom Kampf zwischen dem lich­ten und finsteren Weltprinzip einstmals ein kraftvolles Kulturideal erwecken konnten. Die vierte Gemeinde von Thyatira spiegelt in deutlicher Weise eigentlich urchrist­lichen Geist und urchristliche Probleme wider. Sie ent­spricht jener Epoche, die wir im Zusammenhang mit dem Matthäus-Evangelium zu charakterisieren hatten. Ihre Auf­gabe war es, die geschichtlich gewordene Offenbarung festzuhalten und in Treue zu pflegen. Das Sendschreiben sagt: „lch will nicht auf dich werfen eine andere Last; doch was ihr habt, das bewahrt, bis daß ich komme.“ In der Sprache der alten Propheten hieß „eine Last von dem Herrn“ – eine Offenbarung aus dem Geiste heraus empfangen. Die erste Stufe des Christentums soll sich eben mit jener Offenbarung begnügen, die in den urchristlichen Dokumenten, der biblischen Tradition festgehalten ist, bis sich der Christus in einer neuen Daseinsform zu offenbaren beginnt. Wer in diesem Sinne Treue bewahrt, dem wird verheißen: „ich will ihm Vollmacht über die heidnischen Völker geben, und er soll sie mit einem eisernen stabe weiden.“ Die christliche Kirche war dazu berufen, zunächst die Völker-Erzieherin zu werden und ihr Hirtenamt im Chaos der Zeit mit den Kräften des klaren Gedankens (mit dem „eisernen Stabe“) zu vollziehen. So ist sie zur Gestalterin der abendländischen Kulturwelt geworden. Sie hat den heidnischen Volkstümern eine neue Rich­tung gewiesen, zuerst aus dem Niedergang der orien­talischen Kulturen und später dann aus den Wirren der Völkerwanderung hinausführend. Was durch die Mensch­werdung Christi als ein neues, geheiligtes Menschenbildnis aufgeleuchtet war, das wurde zum Inhalt des Glaubens­lebens und zum Ideal des sittlichen Handelns erhoben.

Die drei letzten Sendschreiben jedoch, die sich an die Gemeinden von Sardes, Philadelphia, Laodicea wenden, deuten zugleich auf künftige Formen des Christentums hin. Sie entsprechen bis ins Einzelne jenen drei Offen­barungsstufen, die wir an Hand der Evangelien charak­terisieren konnten und die sich in drei großen Kultur­epochen ausgestalten werden.‘)

Da ist zunächst der Brief an die Gemeinde zu Sardes. Er klingt wie unmittelbar in unsere Gegenwart mit ihren Nöten hineingesprochen. Denn es wird hier auf eine Seelenverfassung hingewiesen, die das Entschwinden der alten Erbkräfte des Geistes und demgemäß auch der re­ligiösen Ueberlieferungen an sich erleben muß. Deshalb wird sie zu einem neuen Erwachen im Geiste aufgerufen, auf daß der Christus nicht komme „wie ein Dieb in der Nacht“. Das heißt : die Offenbarung, die aus Geistesreichen in unsere Zeit • hereinstrahlen will, ist in Gefahr, ver­schlafen zu werden. In dieser ungeheuren Zeitenwende, die auf einer Umwandlung der tieferen Lebenskräfte be­ruht, werden die Menschen zunächst nur erleben, wie ihnen immerfort etwas abhandenkommt. Als ob „ein Dieb“ .sie beraube, während sie geschlafen haben. Sie werden sich ihrer alten Geistesschätze beraubt fühlen, der religiösen Traditionen und der tragenden Kräfte des sittlichen Le­bens, ohne aber zugleich die hereindringenden neuen Geistes­kräfte vollbewußt ergreifen zu können. Darauf jedoch kommt es an. Dies erfordert eine tätige Entfaltung keim­hafter Geisteskräfte, die sich im Seeleninnern leise an­kündigen. Neue Wege zum Geiste müssen gebahnt wer­den. „Aber du hast einige Namen zu Sardes, die nicht ihre Kleider befleckt haben, und sie werden mit mir wand dein in weißen Kleidern; denn sie sind würdig erfunden Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden“.

Einzelne werden es zunächst erst sein,  die sich aus dem Sinnenschlaf einer geistverleugnenden Epoche vollbewußt erheben. Sie werden sich „im ätherischen Gewande“. erfühlen können. Der verborgene Lichtkörper wird in ihnen zum. Erwachen kommen, und sie werden lernen, sieh in ihm frei vom Sinnenleibe zu bewegen. Dadurch werden sie zu jener Sphäre der flutenden Lebenskräfte Zutritt gewinnen, die hinter dem Sinnmachen allem Werden und Vergehen zugrunde liegt. In dieser Welt wird sie der Auferstandene erwarten. Es ist das Zeitalter der sich aus Sinnesfesseln freikämpfenden Individualität, für das wir das Markus-Evangelium als Inspirationsschrift erkannt. haben. Markus schildert ja in dem Gethsemane-Geschehen wie in seinem Osterberichte jene Jünglingsgestalt, „die „im weißen Kleide“ erscheint und über die Gruft hinausweist. Die Aktivierung verborgener Lebenskräfte, die sich aus der Sinnesdumpfheit losringen, ist die Grundbedingung für das Hinaufwachsen des Bewusstseins in jene Bezirke, in denen der Christus „im ätherischen Gewande“ sichtbar werden kann.

Das Sendschreiben an die Gemeinde von Philadelphia deutet nun auf jene Geistesepoche hin, für die wir das Lukanische Christentum als Ideal erkannten. Bereits der Name dieser Gemeinde – er bedeutet ja „Bruderliebe“ ­erinnert an die großen Fähigkeiten jener künftigen Epoche zur Brüderlichkeit, die einmal alles soziale Leben gestalten und mit Heilkräften durchdringen soll. „Siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und niemand kann sie zuschließen,“ sagt die apokalyptische Stimme. Es ist die Geistesoffenheit, die den Menschen dieses Zeitalters als Grundhaltung entsprechen wird. Während es in jenem Kulturkreis, den wir mit dem Namen Sardes bezeichnen können, zunächst auf die Aktivität der einzelnen Persön­lichkeit ankommt, sich aus dem allgemeinen Sinnenschlaf zu erheben und dem immer mehr drohenden Geistverlust entgegenzuwirken, soll die Epoche von Philadelphia von einer Seelenstimmung durchwaltet sein, die als Aufge­schlossenheit für das übersinnliche Leben, als die „offene Tür“, überall in Erscheinung tritt. Zwar werden auch in ihr Gegenkräfte wirksam werden. „Die Stunde der Ver­suchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis,“ wird dafür angekündigt. Aber die Geistessicherheit derer, die die christlichen Impulse dann in das Leben der Ge­meinschaft hineinzutragen haben, wird bereits so stark sein, dass sie dieser „Versuchung“ standzuhalten vermag. Sie werden wie „Pfeiler“ aufrecht stehen, die den Mensch­heitstempel zu tragen bereit sind. Indem sie die Verwir­rung der Geister durchschauen und unbeirrbar stehen, von keiner zeitweiligen Strömung mitgerissen, werden sie die Tragekraft des Geistes bewähren, durch welche die schwächeren Naturen mitgehalten werden. Denn eine ge­nügende Anzahl christ-erfüllter Individualitäten wird da­sein müssen, um das gesamte soziale Lebensgefüge zu tragen und den ständigen Ausgleich innerhalb aller Schwan­kungen und Erkrankungen des Menschheitsorganismus herbeizuführen.

„Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes . . .“ Es werden Genies der Gemeinschaftsbildung erstehen, die diese zukünftige Epoche – wenn die alten Gruppenbildungen, die noch auf Bluts-kräften aufgebaut sind, völlig zerfallen sein werden – zu ihrer Größe führen können. Eine Atmosphäre gegenseiti­gen Menschenverständnisses und elementar wirkender Brü­derlichkeit wird über alle Rassen- und Klassenunterschiede hinausweisen und wie eine wunderbare Liebesaura das Zu­sammenwirken der Menschen überstrahlen. Wir können bereits manches davon sich in der russischen Seele ankün­digen sehen. In den Gestalten der Dostojewski’schen Romane z. B. drängt diese zukünftige Kulturepoche schon herauf; wir können ihre großen Möglichkeiten, aber auch ihre Abirrungen an diesen Gestalten deutlich gewahr wer­den. Indem die russische Seele heute zum Experimentier­feld sozialer Neugestaltung gemacht wird, sammelt sie Erfahrungen, durch die sie – und sei es auch durch un­sägliche Leiden hindurch – für jene Menschenbrüderlich­keit allmählich heranreifen kann, die zum innersten Lebens­odem einer künftigen Weltkultur werden soll. In diese Aura wird der Christus als der Heiland der Seelen ein­treten. Er will gleichsam immerfort zwischen den einander begegnenden Menschen geboren werden. Er wird sich in die Gemeinsamkeit der Gedanken und Empfindungen wie eine Himmelsoffenbarung wesenhaft hereinsenken, für die die hingebenden Seelenkräfte der brüderlich wirkenden Menschen stets auf neue und immer herrlichere Weise die Umhüllung weben. Die Weihnachtsglorie, von helfenden und Harmonien-tragenden Engeln umschwebt, wird sich immer machtvoller in der Erdenfinsternis entfachen und weithin ausstrahlen.

Die Worte, die an die Gemeinde von Laodicea ge­richtet sind, weisen auf jenen letzten Kulturkreis hin, den wir aus dem Geiste des Johannes-Evangeliums zu erahnen versuchten. Es sind Worte, die zur Entscheidung aufrufen. Denn sie gelten den Seelen, die in die Stunde der „Krisis“ eingetreten sind. „Ich weiß deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ Das Licht, das in die Finsternis eingedrungen ist, führt zur Scheidung der Geister. Es wird ein Zeitpunkt ein­treten, der das Leben in Dumpfheit unmöglich macht. Das Hereindringen des übersinnlichen Lebens in das Seelen­innerste wird sich mit sanfter und doch unwiderstehlicher Gewalt ankündigen: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abend­mahl mit ihm halten und er mit mir.“ Christus tritt in das Herzgemach ein. Sein welt-umspannendes Ich beginnt das geläuterte Menschen-Ich zu durchdringen. Sie werden miteinander die Kommunion im Geiste feiern.

Damit aber wird das Menschenwesen sich seines tiefen Lebenszusammenhangs mit Dem bewusst, von wel­chem es einstmals ausgegangen ist. Es darf in seinen Urbeginn zurückkehren und die Welt des Scheins tief unter sich zurücklassen: „Wer überwindet – so spricht die Christusstimme -, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie ich überwunden habe und mich ge­setzt mit meinem Vater auf seinen Thron.“

Das Menschen-Ich wird in der inneren Verbindung mit dem Christus-Ich den Sieg über die. Stoffeswelt er­ringen. Es wird ein Herrscher über die Materie. Ein „Thronender“, sagt die Apokalypse. Christus, der durch die Erdentiefen geschritten ist, der sie im Leiden und Sterben besiegte, offenbart sich auf dieser Stufe als der zur Weltenlenkung Erhöhte. Er wird wiederum in seiner Logos-Wesenheit enthüllt werden.

Dieses Bild, das wie ein erhabenes Menschheitsziel vor dem Seher von Patmos aufleuchtet : die Schar der Miteinander-Thronenden, ist die Erfüllung der johanneischen Verheißung: „Ich will, wenn ich von der Erde erhöht werde, alle zu mir ziehen.“ Die dritte der sich vorbereitenden Christusoffenbarungen wird den Menschen, der sich für sie aufschließt, aus der tiefen Verstrickung in die irdischen Inkarnationsfolgen herausheben. Er wird fortan in einer erhöhten Daseinsform am Leben der Erde teilhaben, um an ihrer Verwandlung mitzuwirken. Die majestätische Thronvision, die in der Apokalypse unmittel­bar auf das siebente Sendschreiben folgt, stellt das Urbild dieser erhöhten menschlichen Zustände vor unseren geisti­gen Blick hin. Sie lässt die Würde eines christdurchdrun­genen Menschentums ahnen, wenn da die hehren Gestalten vor dem Christusthrone anbetend bekennen: „Du hast uns unserem Gotte zu Königen und Priestern gemacht, und wir werden Könige sein auf Erden.“

Anmerkungen.

1. Es ist dem Verfasser vollbewußt, wie „unwissen­schaftlich“ es für die Ohren der modernen Bibelkritik und Textforschung klingen muss, bereits in der Anord­nung des neutestamentlichen Kanons noch eine überlegen wirkende Weisheit anerkennen zu wollen. Man könnte ihm einwenden, es hat ja im Urchristentum mehr als vier Evan­gelien gegeben, wie wir aus erhaltenen Fragmenten noch wissen können; oder es sei doch (wofür allerdings die Beweise nicht einmal stichhaltig sind) z. B. Markus eher als Matthäus entstanden. Dem sei entgegnet, dass das Wissen um die Entstehung des biblischen Kanons viel mehr in Dunkel gehüllt ist, als die moderne Textforschung zugeben möchte. Was heute vielfach als eine „zufällige“ Auswahl und Anordnung betrachtet wird, wie sich aus der Fülle urchristlicher Weisheitsschriften gerade dieser Kanon herauskristallisiert hat, könnte eben sehr wohl in den ersten Jahrhunderten noch einer geistigen Führung unterworfen gewesen sein, die durch das Wissen bestimm­ter esoterischer Kreise ihre Richtlinien gewann. Dass es Strömungen gab, die eine solche esoterische Christus­weisheit und mit ihr die Schlüssel zu einer tieferdringenden Evangelienerkenntnis zu hüten wussten, dafür liegen hinreichende Beweise in den urchristlichen Schriften selber, ja noch bei den Kirchenvätern der ersten Jahr­hunderte vor. Man muß nur den Willen aufbringen, sie anzuerkennen. So darf man in diesem Sinne durchaus wiederum die alte These gelten lassen, dass bei dem Ent­stehen des Kanons der neutestamentlichen Schriften „der heilige Geist“ gewaltet habe. In dieser Betrachtung soll jedoch nirgends von einer solchen Behauptung als einem blind anerkannten Dogma ausgegangen werden. Sondern indem wir nur unbefangen, allerdings mit einer ehrfurcht-getragenen und in gewissem Sinne künstlerischen Ein­fühlung an die Evangelien und ihre Rätsel herantreten, ergeben sich sinnvolle Zusammenhänge und gewisse Stufen­folgen, die beglücken, indem man sie entdeckt, und die überzeugen, indem man sie bis in alle Einzelheiten verfolgt. Je weiter man nach dieser Richtung forscht, umso un­möglicher müsste es dem unvoreingenommenen Erkennen werden, hier noch von „Zufälligkeiten“ oder gar von „Menschenwerk“ zu reden. Man ringt sich auf diese Weise zu einem neuen Inspirationsbegriff durch, der allen kritisch-intellektuellen Einwänden standhalten kann. (Es soll damit andrerseits nicht gesagt sein, daß die heute vor­liegenden Texte nicht gewisse Unzulänglichkeiten auf­weisen oder sogar an einzelnen Stellen die Hand tenden­ziöser Bearbeitung verraten.)

2. „eudökesa“ kann wohl im alltäglichen Sprachge­brauch bedeuten „Wohlgefallen haben“, wie es die ge­wöhnlichen Bibelübersetzungen verdeutschen. Es besteht jedoch ein tiefer Zusammenhang zwischen der neutestamentliehen und der sakralen Sprache, wie sie in den an­tiken Mysterienreligionen gepflegt wurde. Diese Einflüsse, die man bei Paulus vor allem, aber auch bei den Evan­gelien deutlich aufweisen kann, sind der neueren Forschung längst bekannt; nur hat sie aus dieser Einsicht nicht die vollen Konsequenzen gezogen. Es handelt sich hier um ein Verbum, das mit dem Worte döxa verwandt ist. Letz­tereskommt sehr häufig im Neuen Testamente vor undwird oft falsch übersetzt (z. B. als „Ehre“ oder „Herrlich­keit“). Es ist aber in der sakralen Sprache die „Offen­barung“des Geistigen, das da erstrahlt. Es bedeutet auch den übersinnlichen „Lichtschein“, lateinisch : die „Gloria“

aus den Höhen. Hebräisch ist es die „Schekhina“, in welcher der Menschensohn erscheinen soll. Man kann in der Geschichte des Christentums beobachten, wie mit dem allmählichen Erlöschen gewisser übersinnlicher Fähig­keiten, die in der urchristliehen Zeit durchaus noch vor­handen waren, auch die Substanz der Worte selber ver­flüchtigt wird. Sie verlieren, besonders bei den Uebersetzungen ins Lateinische oder noch mehr in andere Spra­chen, ihren ursprünglichen Geistgehalt. Erst wenn durch die Entwicklung neuer hellseherischer Fähigkeiten die übersinnlichen Sphären dem christlichen Bewusstsein wie­der vertraut werden, werden sich auch die biblischen Worte und Bilder auf neue Weise mit Erlebnissubstanz erfüllen. Die d6xa oder die Schekhina wird als Glanz der ätherischen Leuchtewelt wiederum etwas ganz Bekanntes werden. Es wird zu einer Bewusstseinserweiterung kom­men müssen, zu einem Niederlegen der Schranken des Sinnenbewusstseins, wenn der Christusimpuls im Sinne des Markus-Zeitalters wirksam werden soll.

Im Lukas-Evangelium wird innerhalb des Taufberichts von einer anderen Seite aus deutlich, was sich in jenem Augenblicke vollzogen hat. Es ist wirklich erst der Eintritt des Christuswesens in die irdische Verkörperung gemeint, wenn da die Stimme aus den Höhen erklingt: „Mein Sohn bist du, Ich habe dich heute gezeuget“ (Luk.. 3, 22). Diese Lesart ist allerdings im“ offiziellen Bibeltext unterdrückt. Sie ergibt sich aber einer ernsten Textkritik als die ursprüngliche, da sie bereits bei drei der ältesten Kirchenväter (Justinus, Clemens, Origenes) zitiert wird. Und zwar müssen ihnen ältere Handschriften des Lukas-Evangeliums vorgelegen haben, als alle uns heute erhal­tenen, die ja frühestens nur bis ins vierte Jahrhundert zurückgehen. Man hat also jene ursprünglichen Worte nach den Parallelstellen von Matthäus und Markus „ver­bessert“. Das Wort „gezeuget“ bei Lukas hätte eben zu eindeutig offenbar gemacht, dass die Jordantaufe wirklich erst die Geburtsstunde des Christuswesens für das Erdensein bedeutete. Man hat aber vom 4. Jahrhundert an dieses Epiphaniasgeheimnis zugunsten der Weihnachts­tatsache zu verschleiern gesucht.

3. In Franziskus und manchen ihm verwandten Geistes­bewegungen des Mittelalters kann man das Heraufkommen eines Buddhismus im christlichen Gewande empfinden. Die Buddha-Lehre vom allumfassenden Mitleid und von der Abtötung der niederen Selbstsucht, des „Durstes nach Dasein“, kehrt in der franziskanischen Seelenhaltung wie­der. Allerdings doch in bedeutsamer Weise abgewandelt; denn in dem „Sonnengesang“ des Heiligen von Assisi lebt andrerseits eine Bejahung der ganzen Schöpfung, ein Lobpreis auf den Urheber aller Kreaturen, die zu seiner Verherrlichung erschaffen sind. Die Existenz als solche wird hier nicht als das große Verhängnis, als der Daseins­irrtum aufgefasst, wie wir es aus der Lehre des östlichen Weisen kennen. Bei Franziskus ist das Leiden, das der Buddha als Grundgesetz alles Daseins aufzeigte und um dessentwillen er sein Nein zum Dasein sprechen musste, kein Anlass zur Lebensverneinung. Ihm wird das Leiden im Hinblicken auf das Kreuz von Golgatha selber gehei­ligt. Man lese etwa die Belehrung an Bruder Leo über die „vollkommene Freude“, wie sie sich in den „Bitimlein des heiligen Franz“ findet, und man wird den ent­scheidenden Gegensatz zur Buddha-Lehre erfassen können. Das „Gleichförmigwerden“ mit dem Leiden des Christus wird gesucht; es lässt in der Seele einen Quell schöpfe­rischen Lebens aufbrechen. Die Armut wird in Freiheit erwählt und gleich einer Braut umworben; sie lässt einen beseligenden Reichtum von innen her aufglänzen. Wir stehen hier vor einem geheimnisvollen Einmünden der Buddhaströmung, die aus vergangenem Geistesleben kommt, in das mächtigere Strombett des Christusimpulses, der in die Zukunft weist.

Dazu stimmt gerade alles, was Rudolf Steiner in seinen Vorträgen über das Lukas-Evangelium ausgeführt hat (in Buchform erschienen : Dornach 1931). Es wird in diesem Buche aufgezeigt, wie die Inspiration das Gautama Buddha aus geistigen Höhen des Daseins, in denen er damals weilte, mit hereingewirkt hat bei allem, was sich um das heranwachsende Jesuskind abspielte. Deshalb ist auch die Lehrweise des Christus selber, wie sie Lukas darzustellen vermochte, der ja gerade auf die allmensch­liche Kindesnatur in Jesus hinschaute, von einem Buddhaverwandten Geisteshauch durchdrungen. In jener Kultur­epoche, für die das Lukas-Evangelium einst in vollem Sinne inspirierend sein soll, wird es daher auch zu den wichtigsten Aufgaben gehören, die völlige Verschmelzung der Buddhaweisheit mit der Christusoffenbarung zu ver­wirklichen. Was aber bedeutet dieses letztlich? – Die Ver­einigung der Lehren von der Wiederverkörperung und dem Schicksalsgesetz (Reinkarnation und Karma) mit dem Christentum herbeizuführen.

Daran muss allerdings bereits das Christentum der gegenwärtigen Epoche arbeiten. Der Christusimpuls im Sinne des Markus-Evangeliums will ja die schöpferischen Kräfte zur Erweckung bringen, die dem Menschen-Ich innewohnen. Er führt zur Erfassung dessen, was in jedem einzelnen Menschen über die Erstarrung der Erdenform, über den Tod hinaushebt und sich aus kosmischen Lebens­quellen verjüngen kann. Wir lernen das Gesetz der Meta­morphose, des Formenwandels von Dasein zu Dasein, als den innersten Lebenswillen der sich befreienden Indivi­dualität erfassen. Dieser Verjüngungsimpuls, den wir aus dem neuen Christuserlebnis gewinnen können, führt das Menschenwesen durch Tode und Wiedergeburten stufen­weise zu seiner Vergeistigung hinauf.

Aber erst in einer fernen Zukunft wird dieses Er­lebnis soweit heran gereift sein, dass die Anschauung aller Menschenbeziehungen und Erdenschicksale im Lichte des Karmagesetzes zur Grundtatsache des gesamten sozialen Lebens werden kann. Dann erst wird die „Nachfolge Christi“ im tiefsten Sinne zu der hohen Kunst, das Leiden fruchtbar zu machen. Der christ-erfüllte Mensch wird die Fähigkeit entwickeln, auf jeglichen Schmerz und auf alle Lebenswiderstände schöpferisch zu antworten. (Siehe dazu auch das Büchlein des Verfassers „Vom Sinn des Leidens.“ Bausteine, Heft 3. im Columban-Verlag 1944.)

4. Man kommt, wenn man sich künstlerisch in die Komposition des Johannes-Evangeliums und seiner immer wiederkehrenden „Motive“ einlebt, unmittelbar zu einem musikalischen ‚Erlebnis; es ist wie das Erlauschen einer geheimen Melodie, die ihm innewohnt, die aber allmäh­lich zum symphonischen Kunstwerk heranzuwachsen scheint Es sei hier auf einen bedeutsamen Beitrag von Robert Gcebel hingewiesen, der ebenfalls „zur Zusammenschau der vier Evangelien“ führen will. („Das Evangelium in den vier Evangelien“, aus der Schriftenreihe „Theologie und Kultus“, Stuttgart 1929, zur Zeit vergriffen.) Er sagt da, nachdem er die Eigentümlichkeit der Stilgebung in allen vier Evangelien herausgearbeitet hat: „Der wahre Künstler schafft aus der Inspiration, aus der Tatsache heraus, dass er vom göttlichen Odem angeweht wird. Von einem solchen Angeweht-Werden – eine Anschauung, die wir durchaus frei von aller Dogmatik meinen – werden wir selber bei den Evangelisten berührt, die kein anderes Ziel haben, als das Wirken dieses geistigen Odems im Erdengang des Christus darzustellen.“ Und er fasst die Betrachtung in die Charakteristik zusammen:

Matthäus baut als Architekt, Markus schafft als Plastiker, Lukas wirkt als Maler, Johannes dient als Musiker.

Die mittelalterliche Empfindung hat dieser Tatsache ja auch insofern Ausdruck verliehen, als sie Lukas zum Schutzheiligen der Maler und Johannes zum Schutzheiligen der Musik erhoben hat. Der nach Zahlengesetzen geglie­derte Aufbau des Matthäus-Evangeliums ist leicht als ein architektonisches Kunstwerk zu würdigen. Die Dynamik des Geschehens, wie sie die Markus-Darstellung durch­pulst, spricht den inneren Plastiker im Menschen an. Markus führt uns, wenn‘ wir von der Weltverjüngungs-kraft seines Christus-Erlebnisses ergriffen werden können, in das Reich der ätherischen Lebenskräfte hinauf, in die Welt der verjüngten Gestalten. Lukas gilt in der Tradition als der erste „Marienmaler“. Nun, sein Evangelium ist es ja, das uns das Bildnis der jungfräulichen Mutter ins Herz prägt. Kein Evangelium enthüllt so viele Szenen, die im­mer wieder die Maler inspiriert haben, wie gerade das des Lukas. Das Johannes-Evangelium könnte man, in weiten Teilen seiner Darstellung, in feierlichen Rhythmen lesen. Man hat es ja oftmals sogar versucht, bestimmte Abschnitte in solcher Art poetisch-musikalisch zu gliedern.

5. Wir haben bereits in der zweiten Anmerkung auf die eigentliche Bedeutung des Wortes döxa hingewiesen. Gerade durch die lateinische Bibelübersetzung, die für döxa das Wort gloria hat, ist dieses Missverständnis ver­stärkt worden. Die „Glorie“ ist ja ursprünglich der Licht­glanz und wird in übertragenem Sinne erst zum Ruhm, zur Ehre. Wenn aber jemand „zur Ehre Gottes“ krank wird, damit (nämlich durch das Heilungs-, bzw. Erweckungswunder) auf diese Weise „der Sohn Gottes geehrt werde -“ : so führt eine solche Übersetzung doch zu einer Ungeheuerlichkeit. Dann wäre ja die Krankheit des La­zarus zweckbestimmt, und die Auferweckung wäre nicht eine Tat des göttlichen Liebeswillens in Christus; sie würde damit zu einer Demonstrationshandlung herabge­würdigt. Aber die Krankheit ist eben eine „Krisis“, die „zur Offenbarung des Gottes“ in Lazarus führen soll. Der Gotteskeim, der unter der sterblichen Hülle seiner Menschlichkeit schlummert, ringt sich in ihr zu offenbarungtragendem Leben hindurch. Dadurch kann Lazarus einstmals „den Sohn Gottes offenbaren“, d. h. der große Verkünder des Christusmysteriums werden. Er reift damit zum Schreiber des Johannes-Evangeliums heran.

6. In seinem Buch über „Meditation“, wie in anderen dem Johannes-Evangelium gewidmeten Betrachtungen hat Friedrich Rittelmeyer immer wieder auf den wunderbaren Stufengang der sieben Ich-Bin-Worte dieses Evangeliums hingewiesen. Er hat gezeigt, wie in ihnen das Christus-Ich vor uns erstrahlen will und wie wir diese siebenfäl­tige Wesensoffenbarung zum Ausgangspunkt für einen inneren Meditationsweg nehmen können. Indem wir durch diese Worte das Christus-Ich selbst vor unsere innere Anschauung treten lassen, es gleichsam in uns selber „da sein“ lassen, können wir gewahr werden, wie es an unserem Seelenwesen zu bilden beginnt und wie es schließlich bis in die verborgenen Lebenskräfte der Men­schennatur läuternd und umschaffend einzugreifen anfängt. Wir ahnen, wie aus diesem Christus-Ich heraus sich ein ganz neuer Mensch in uns auferbauen will. Das erste dieser johanneischen Offenbarungsworte erklingt im Anschluss an das große Speisungswunder (Joh. 6): „Ich bin das Brot des Lebens“. Das siebente innerhalb der Ab­schiedsreden, wo der tiefste Lebenszusammenhang zwischen dem Auferstandenen und der Menschheit, sofern sie den Weg der Jüngerschaft geht, enthüllt wird: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“. Das Christus-Ich will selber zu Brot und Wein eines neuen Lebens werden. Das johanneische Christentum erschließt den Weg zur „gei­stigen Kommunion“.

7. Diese sieben Kulturepochen, die Rudolf Steiner zur Grundlage einer neuen Geschichtsbetrachtung gemacht hat, kann man sich im Einklang mit den kosmischen Rhyth­men denken, wie sie in der „Sternenschrift“ vorgezeichnet sind. Indem die Sonne, gemäß der Präcessionsbewegung, ihren Frühlingspunkt (Tag- und Nachtgleiche) allmählich verschiebt, wandert sie im Laufe von 2160 Jahren von einem Tierkreisbilde zum andern; d. h. wenn wir jedem Sternbild schematisch dreißig Grade am Himmelsrund zuteilen. So ist sie in der vorchristlichen Zeit im Sternbild des Widders aufgegangen, während sie jetzt in den Fischen ihren Früh­lingspunkt hat. Dieser Übergang vollzog sich gerade um die urchristliche Zeitenwende herum. Deshalb haben wir vorher das Widdersymbol in den Religionen (das Passah-lamm des israelitischen Kultus gehört auch dahin). Mit dem Urchristentum aber kommt das Fischsymbol, wie wir es z. B. in den Katakomben finden, allmählich herauf. Da aber die geistigen Kräfte, die für die Menschheitskul­tur im breiteren Maße von diesen Sternenkonstellationen ausstrahlen, erst nach und nach in das Erdenleben ein­dringen, so setzt die geisteswissenschaftliche Berechnung den Beginn des Fisch-Zeitalters beträchtlich später an. Wir sehen ja im Jahreslaufe, wie der Hochsommer auch erst nach der Kulmination des Lichtes in der Sommer­sonnenwende und die eigentliche Winterkälte erst nach der Wintersonnenwende einsetzt. So beginnt die Kultur des Widder-Zeitalters um das achte vorchristliche Jahrhun­dert: zur Zeit der Gründung Roms und der Geburt des griechischen Gedankenlebens. Damit fällt bekanntlich das Auftreten der großen Propheten Israels zusammen, die die messianische Zeit vorbereiteten. Bis ins Mittelalter lebt die christliche Menschheit, sofern sie kulturbildend wirkt, noch völlig von diesen Kräften. Dann erst, mit dem Herauf­kommen von Renaissance und Humanismus, kündigt sich im 15. Jahrhundert das Zeitalter der sich freikämpfenden Individualität an. Dieses vollzieht sich im „Zeichen der Fische“, das heute waltet.

Diesem Zeitalter entsprechen deshalb auch Lebens­formen des Christentums, die über jegliche Begrenzung der Lehre im Dogma und über die Bindung der Persön­lichkeit an autoritative Kirchenformen hinausführen. In der „Christengemeinschaft“, der Bewegung für religiöse Erneuerung, wie sie im Herbst 1922 ins Leben getreten ist, kann man Keimzellen solcher zukünftiger Lebensfor­men finden. Sie entfalten sich in freien christlichen Ge­meinden, die den lebendigen Zusammenhang mit der Christus­welt in erneuerten Kultushandlungen, vor allem im Altar­sakrament, zu pflegen suchen und durch die Arbeit an einem neuen Evangelienverständnis die Wege zur unmittel­baren Geist-Erleuchtung, zur Begegnung mit dem Aufer­standenen selber finden wollen. Nicht als eine neue „Kon­fession“, die neben die anderen tritt, möchte diese Zu­kunftsform des Christentums betrachtet werden. Sie ver­mag über alle konfessionellen Gegensätze hinauszuführen, da sie vom Glauben zum Erkennen, zum Erwachen im Geiste die Pfade bahnen möchte. Vor ihr steht das Ideal der zur Freiheit strebenden und sich gegenseitig in dieser Freiheit achtenden, einander bejahenden Individualitäten als Ziel einer im Geiste geheiligten Lebensgemeinschaft.

Im „Zeichen der Fische“ beginnt sich der Auferstan­dene „im ätherischen Gewande“ zu offenbaren. Er wird für den hellsichtigen Blick in der Welt der flutenden Lebens­kräfte sichtbar werden. Erst ein Viertel dieser Kulturepoche ist nach der geisteswissenschaftlichen Darstellungsweise abgelaufen. Die Menschheit hat noch anderthalb Jahr­tausende vor sich, um diese keimhaften Kräfte eines über­sinnlichen Christuserlebens zur vollen Entfaltung zu bringen. Im „Zeichen des Wassermanns“ (also um das Jahr 3500 herum) würde sie erst in jene Epoche Einzug halten, die wir durch die Lukanische Seelenstimmung zu charak­terisieren suchten.. Das Wassermann-Zeitalter muss jedoch von kleinen Kreisen innerhalb der gegenwärtigen Mensch­heit schon vorbereitet werden. Der Christus wird der Menschheit von Stufe zu Stufe voranziehen. Einst wird er auf einem „höheren Plane“, in der Sphäre der geistig-seelischen Kräfte, offenbar werden. Doch erst in der sie­benten Epoche, im „Zeichen des Steinbocks“ wird die Menschheit in jene große Krisis eingetreten sein, wie sie im Sinne des johanneischen Christuserlebnisses gemeint ist. Der Steinbock ist das geistigste der Sternbilder; wenn dieses im Frühlingspunkte stehen und aus ihm die öster­liche Sonne ihre lebenweckenden Kräfte senden wird, soll die Menschheit den Impuls der vollständigen Vergeistigung ihrer Erdenkultur erfahren. – Ist der Steinbock nicht das kühn, von Gipfel zu Gipfel springende Tier, das leichten Fußes die Abgründe überwindet?

Er steht als ein tiefsinniges Symbolum für den Geistes­impuls jener siebenten Epoche da, in welcher die Menschheit zu Gipfelerlebnissen apokalyptischer Art herangeführt werden soll. Um diese bestehen zu können, wird sie aller­dings im geistigen Sinne „schwindelfrei“ sein müssen. Sie wird dazu die innere Haltekraft allein aus dem Christus-Ich gewinnen können.

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